Was Mensch braucht – wie unsere Kinder Selbstwert erlangen
Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von Deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich (…) stehen, wie vor dem Eingang zur Hölle.“
(Franz Kafka. In: Alice Miller: Du sollst nicht merken)
Es lässt sich schon am Zitat erahnen. Dieser Newsletter wird intensiv – und für mich ziemlich aufregend. Ich schreibe über ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt, das mich beschäftigt und aufwühlt, worüber ich mir schon sehr viele Jahre Gedanken mache, im Grunde seit ich Anfang zwanzig bin. Ein Thema, das ich, seit ich Mutter bin, noch aus einer anderen Perspektive betrachte: Es geht um den Zusammenhang zwischen Kindheitserlebnissen und Selbstwert im Erwachsenenalter. Ich kann dieses Thema beleuchten als Erwachsene, die selbst Tochter ist und als Mutter zweier Kinder.
Ich nehme wahr, dass es ein großes Anliegen aller Eltern ist, ihren Kindern Selbstwert mitzugeben und werde in Workshops gefragt, wie das gelingen kann. Wir wissen heute aufgrund von Forschung ziemlich genau, was Kinder brauchen. Aber um es ihnen wirklich zu geben, reicht die reine Information nicht aus. Weil es eben nicht um ein Kochrezept geht oder darum „wie schließe ich meinen neuen Telekom-Router an“. Unseren Kindern Selbstwert mitzugeben ist immer auch verbunden mit der Arbeit an uns selbst. Und mit der Reflexion über die eigene Kindheit. Und das ist die Entscheidung für den Antritt einer Reise, die lange dauern kann, die schmerzhaft sein kann, die sich meiner absoluten Überzeugung nach aber immer lohnt.
Wir sind Vorbilder für unsere Kinder. Wenn wir selbst unseren eigenen Wert nicht kennen, spüren und dafür einstehen, bekommen sie das mit. Sie ahmen uns vielleicht nach in selbstdestruktiven Gedanken- und Verhaltensmustern (ich bin zu dick, zu dumm, ich muss alles perfekt hinbekommen…). Oder sie denken möglicherweise, wenn meine Eltern von sich selbst nicht viel halten, dann kann ich als deren Kind auch keinen großen Wert haben.
Und mit großer Wahrscheinlichkeit wiederholen wir destruktives Verhalten, das wir von den eigenen Eltern erfahren mussten an unseren Kindern, wenn wir es nicht reflektieren und bearbeiten. Wir geben die negativen Haltungen und Muster, die wir als Kind erlebt haben an unsere Kinder weiter. Ich habe das schon oft gehört von anderen Eltern und kenne es auch selbst, dass ich in bestimmten Situationen denke: ES spricht aus mir. Wir reagieren dann auf unsere Kinder aus unserem Eltern-Ich heraus, also mit der Stimme, die wir unreflektiert von unseren Eltern übernommen haben. Manchmal im genauen Wortlaut. Dieses Verhalten sitzt so tief in uns, dass wir es uns mühsam abtrainieren müssen, um bewusst und frei aus unserem Erwachsenen-Ich heraus zu handeln. Um die Eltern zu sein, die wir wirklich sein wollen.
Wenn wir dem Schmerz unserer Kindheit nicht nachgehen und ihn heilen, werden wir immer wieder durch die Bedürfnisse und das Verhalten unserer Kinder in unserem Kindheits-Schmerz getriggert und dann übermäßig wütend auf sie („Ich musste als Kind auch immer vernünftig / ruhig / stark / tapfer / fleißig / angepasst / gehorsam / gut in der Schule sein“). Wenn unsere Kinder etwas fordern, was uns versagt war, etwas verweigern, zu dem wir gezwungen wurden oder wenn sie ein Verhalten zeigen, das wir niemals ungestraft hätten zeigen dürfen, dann ist das für uns kaum auszuhalten. Wir werden mit unserem verdrängten Kindheits-Schmerz konfrontiert. Um unsere Kinder zu freien Menschen zu erziehen, müssen wir uns selbst befreien aus den eigenen Verstrickungen.
Zu diesem Thema lese ich seit Jahren die Bücher der Psychologin Alice Miller, die seit den 80er Jahren dazu geforscht und publiziert hat, wie verdrängte Kindheitstraumata zu Depressionen, zu körperlichen Erkrankungen und zur Weitergabe von Gewalt führen können. Und welchen großen Einfluss diese Traumata auf die Erziehung der eigenen Kinder haben können.
Ich nehme eine Tendenz zur Tabuisierung schmerzhafter Kindheitserlebnisse wahr. Darüber zu sprechen ist mit großer Scham verbunden (sowohl beim Sprechenden als auch beim Zuhörenden). Vielleicht werde ich beim Zuhören zu sehr an eigene verdrängte Schmerzerlebnisse aus der Kindheit erinnert. Die meisten Menschen wollen nie wieder mit dem unermesslichen Ohnmachts-Gefühl des kleinen Kindes konfrontiert werden, das sie einmal waren.
Selbst in Medizin und Therapie wird psychische und psychosomatische Krankheit erstaunlich wenig in Zusammenhang gebracht mit frühkindlichen Erlebnissen. Wenn Jugendliche Essstörungen haben, warum wird dann in der Klinik nicht nachgeforscht, warum sie sich einen letzten Rest Kontrolle über das Aushungern des eigenen Körpers bewahren – sondern nur die Kalorien gezählt, die sie zu sich nehmen? Auf diese Weise werden sie zum Objekt gemacht und nicht als Subjekt wahrgenommen. Es werden Symptome behandelt, nicht Ursachen. Wenn junge Menschen sich ritzen, warum bekommen sie keine Hilfe dabei herauszufinden, welchen darunter liegenden seelischen Schmerz sie dadurch versuchen, nicht zu spüren? Wenn eine Frau nach der Geburt eine postnatale Depression bekommt, warum wird dann nicht untersucht, wie die Situation ihrer Eltern nach ihrer eigenen Geburt war? Und ob da möglicherweise ein Zusammenhang besteht? Ich kenne Menschen aus diesen Beispielen persönlich. Da werden Jugendliche und Erwachsene mit Tabletten vollgestopft, die ihnen seit Jahren nicht wirklich helfen. Sie alle warten darauf, dass jemand sie als Mensch wirklich sieht und in ihrem Schmerz anerkennt.
Viel zu oft werden meiner Meinung nach die eigenen Eltern und die Kindheit stilisiert, Fehlverhalten der Eltern wird entschuldigt, (Mangel-)Erlebnisse aus der Kindheit schön- und kleingeredet. Ich nehme eine weit verbreitete „jetzt sind wir ja erwachsen und müssen auch mal loslassen und verzeihen“-Haltung wahr. Ich höre Sätze wie „so schlimm war´s ja auch nicht, andere hatten eine viel schlimmere Kindheit“. Gleichzeitig höre ich in meinen Workshops und Beratungen immer wieder Geschichten von Eltern aus ihrer eigenen Kindheit über Gewalterfahrungen, Vernachlässigung, mangelnde Liebe – oft ganz nebenbei. Und sehr oft höre ich von Erzählungen, sich als Kind unverstanden, allein gelassen und abgewertet gefühlt zu haben.
Was passiert denn, wenn wir das NICHT einfach loslassen und verzeihen? Dann müssen wir uns dem Schmerz und der Wut stellen, die auftauchen. Wir müssen uns darüber Gedanken machen, was auch unser aktuelles Verhalten für einen riesigen Einfluss auf das Selbstwertgefühl unserer Kinder später haben wird. Wenn wir unseren heutigen Schmerz mit damals in Verbindung bringen, wird der Zusammenhang evident und kann nicht mehr geleugnet werden. Wenn wir uns aus der Verdrängung lösen, müssen wir unser Verhalten ändern, unseren Schmerz spüren, Illusionen aufgeben.
Das soll nicht bedeuten, dass wir unseren Eltern alles nachtragen oder nie verzeihen sollen – aber: you can´t skip day two. Der Mensch kann nicht den Schmerz überspringen und vom (verdrängten) Schmerzerlebnis ins Verzeihen überwechseln. Trauer und Wut sind wichtige Gefühle, um Erlebtes zu verarbeiten, um Trauma aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu holen. Als Kinder können wir nicht reflektieren und begreifen, wie einsam, ungeliebt oder unverstanden wir uns vielleicht von unseren Eltern fühlen. Das Ausmaß an Schmerz könnten wir nicht bewältigen. Wir sind als Kinder unseren Eltern komplett ausgeliefert und wissen, dass unser Leben von diesen Menschen abhängt und dass wir die nächsten Jahre mit ihnen zusammenleben müssen. Wir MÜSSEN ihnen verzeihen – egal, was sie uns antun. Genauso wie unsere Kinder uns. Das ist eine große Macht, die wir als Eltern über unsere Kinder haben. Ich möchte diese Macht nicht ausnutzen – sondern Verantwortung übernehmen.
Ob dieser Schritt einen Einfluss auf das Verhältnis zu unseren Eltern heute hat? Vermutlich. Ob wir darüber mit ihnen sprechen wollen oder können? Kommt auf unser Verhältnis an. Ich denke nicht, dass wir diesen Prozess mit unseren Eltern zusammen gehen müssen, die sich meistens selbst nicht aus ihrer Verdrängung lösen wollen. Wenn das Verhältnis es zulässt und unsere Eltern die innere Stärke haben, kann es allerdings sehr heilsam sein, wenn sie sich entschuldigen für Dinge, die sie getan oder eben nicht getan haben. Und genauso ist es auch mit unseren eigenen Kindern. Was geschehen ist, ist geschehen. Wenn wir aus Scham und Selbstgeißelung schweigen wird es nicht besser. Alles, was wir tun können als Eltern, ist unsere Fehler anerkennen, uns von Herzen dafür entschuldigen, dem Kind zuhören, was unser Verhalten für Folgen für das Kind hatte und es besser machen in der Zukunft. Und das ist eine Menge.
Ich erlebe es mehr und mehr, dass Erwachsene in meinem Umfeld nun im mittleren Alter negative Grundgefühle erleben wie große Einsamkeit, ein Gefühl von Sinnlosigkeit, Abgeschnittensein von der Welt bis hin zu Depressionen. Und ich bin der Meinung, dass diese Gefühle sehr häufig mit einer Nichterfüllung der Grundbedürfnisse als Kind zusammenhängen. Ich selbst kenne grundlegende Gefühle von Einsamkeit und Wertlosigkeit. Und ich erinnere mich auch noch an das Gefühl als Mutter das erste Jahr nach der Geburt meiner Tochter von großer Überforderung in Anbetracht des großen Bindungsbedürfnisses, das so ein Kind hat. Was ich aber ganz sicher wusste: Ich will auf keinen Fall meine eigenen negativen Erfahrungen als Kind an meine Kinder weitergeben. So wie ich Alice Miller also mit zwanzig Jahren als Tochter gelesen habe, habe ich sie ab da als Tochter UND als Mutter gelesen.
Wenn ich von Trauma oder Schmerzerlebnis spreche, dann könnte man meinen, wir müssten als Kind schweren körperlichen Misshandlungen oder sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen sein, damit wir das „Recht“ haben, traumatisiert zu sein. Deshalb ist es auch in manchen Fällen so schwer, dem Trauma auf die Spur zu kommen, weil es uns nicht in großen Taten entgegen schreit. Das eine sind die Taten unsere Eltern oder anderer Bezugspersonen: Das, was uns angetan wurde. Und das andere ist: Der Mangel, das, was uns gefehlt hat. Und dieser Mangel, das Fehlen von etwas, ist viel schwerer zu bemerken, weil wir dazu erstmal wissen müssen, was wir gebraucht hätten. Wir nehmen als Kinder das als Norm hin, was wir täglich erleben. Wir wissen nichts von dem, was wir nicht kennen. An die Taten unserer Eltern erinnern wir uns meistens, wenn wir geschimpft, angeschrien, geschlagen oder bestraft wurden. Wenn aber unsere Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurden, ist uns das oft nicht bewusst.
Wie stark die Beeinträchtigung bei fehlender Erfüllung der Grundbedürfnisse ist, hängt vom Ausmaß und von der Veranlagung des Kindes ab. Manche Kinder kommen mit einem robusteren Gemüt auf die Welt als andere. Laut Forschung gibt es sogar 10 % so genannter „unverletzbarer Kinder“. Sie gehen auch aus einer schwierigen Kindheit mehr oder weniger unbeschadet und mit einem recht intakten Selbstwertgefühl hervor.
Die psychischen Grundbedürfnisse eines Menschen
Um den Mangel und den Schmerz, dem wir als Kind möglicherweise ausgesetzt waren, zu verstehen, müssen wir uns die Mühe machen, uns in die Kindheitssituation mit unseren Grundbedürfnissen zurück zu versetzen. Als Kind sind wir unseren Eltern ausgeliefert, nicht nur, weil sie unsere Versorger sind. Jedes Kind möchte von seinen Eltern geliebt und anerkannt werden. Wir können uns unsere Grundbedürfnisse nicht selbst erfüllen. Und wir können uns nicht trennen und uns neue Eltern suchen, wenn wir nicht bekommen, was wir brauchen. Die Ohnmacht und Einsamkeit, die ein Kind empfinden kann, können so immens sein, dass es verständlich ist, dass wir dieses Gefühl nicht nachträglich empfinden wollen.
Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat die psychischen Grundbedürfnisse eines Menschen wie folgt benannt: Bindung, Selbstwerterhöhung, Autonomie und Kontrolle und Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung. Diese Bedürfnisse sind allen Menschen angeboren und dienen dem Überleben. Es sind Bedürfnisse, „deren Verletzung oder dauerhafte Nichtbefriedigung zu Schädigungen der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens führen“ (Klaus Grawe). Das ist neurobiologisch erforscht und belegt. Die Erfüllung ist ebenso wichtig wie die Erfüllung der körperlichen Grundbedürfnisse Nahrung, Schlaf und Wärme. Ich möchte hier näher auf die Bedürfnisse nach Bindung und Selbstwerterhöhung eingehen.
Für das Baby ist es lebensnotwendig, einen Erwachsenen zu haben, der sich um sein Wohlergehen kümmert, sonst stirbt es. Deswegen kommen alle Menschen mit dem Bedürfnis nach Bindung zur Welt. Sie müssen sich immer wieder der Nähe der Bezugspersonen versichern, weil deren Anwesenheit und Bereitschaft existentiell für das Überleben des Kindes ist. Eine sichere Bindung entsteht, wenn ich empathische, fürsorgliche und warmherzige Eltern habe, die bemüht sind zu entschlüsseln, was ich brauche. Wenn meine Signale als Baby zeitnah und richtig erkannt und meine Bedürfnisse liebevoll und verlässlich erfüllt werden. Es gibt zahlreiche Experimente, die belegen, wie existentiell Bindung für Babys ist:
– Still-Face-Experiment (vom Entwicklungspsychologen Edward Tronick): In diesem Experiment setzt sich ein Elternteil frontal zu seinem Baby und spiegelt es, berührt das Händchen, wenn es entgegengestreckt wird, lächelt zurück, wenn das Baby lächelt, schaut besorgt und tröstet, wenn es quengelt, zeigt mimisch und gestisch: ich sehe und spüre, wie es dir geht und was du brauchst und ich gebe es dir. Im nächsten Schritt drehen die Eltern im Experiment ihren Kopf zur Seite und wieder zurück und schauen das Kind ab da mit unbewegter Miene an. Sie zeigen keinerlei Reaktionen mehr auf das, was das Kind tut. Sie tun also etwas einfach NICHT mehr. Binnen Sekunden werden die Kinder unruhig, dann weinerlich und schreien nach kurzer Zeit bitterlich. Bis die Elternperson wieder „auftaut“ und das Kind spiegelt. Dann beruhigt es sich sehr schnell und fasst wieder Vertrauen. Dies zeigt, wie verstörend das Aufwachsen mit Eltern ist, die dauerhaft nicht in der Lage sind, dem Kind eine sichere Bindung zu geben. Langfristig können diese Bindungs-Unterbrechungen zu Kontaktstörungen und tiefen psychischen Störungen im späteren Leben führen.
– Friedrich der II. hat im 13. Jahrhundert ein Experiment gemacht, in dem einige Babys isoliert wurden und von einer Amme nur körperlich versorgt. Ansonsten gab es keine (sprachliche oder emotionale) Interaktion. Er wollte so herausfinden, welche Sprache die Ursprache des Menschen ist, also welche Sprache Kinder sprechen, wenn sie keine Worte hören. Diese Babys verkümmerten allesamt und starben. Sie waren ohne emotionale Zuwendung nicht überlebensfähig. Jetzt kann man sich wirklich fragen, mit welcher (Nicht)-Bindung Friedrich II. aufgewachsen ist, um sich so ein unmenschliches Experiment auszudenken und es durchführen zu lassen.
– Der US-amerikanische Primatenforschers Harry Harlow machte in den 50er Jahren Versuche zum Bindungsverhalten von Rhesusaffenbabys. Diese ließ er mit unterschiedlichen Mutterattrappen aufwachsen. Äffchen, die nur ein Drahtgestell bekamen, das ihnen die Milch lieferte, starben. Eine zweite Gruppe bekam als Mütter Drahtgestelle, die zusätzlich mit weichem Plüsch überzogen waren – sie überlebten. Als Erwachsene waren die „Kinder“ dieser Plüschgestelle jedoch sozial inkompetent und paarten sich nicht. Wenn man sie künstlich befruchtete, zeigten sie sich als rabiate Mütter. Die Erkenntnis, dass elterliche Zuwendung und Nähe unabdingbar zum physischen und psychischen Überleben sind, war eine Neuigkeit. Es war damals weit verbreitet, Kindern gegenüber (vor allem Söhnen) Umarmungen und anderen intensiven Körperkontakt zu vermeiden.
Zum Glück gibt es diese Erkenntnisse heute. Allerdings ist der Weg von der Erkenntnis hin zur Umsetzung und Integration ins alltägliche Leben der Erfahrung nach immer ein weiter Weg. Es ist z.B. in Deutschland erst seit 2000 gesetzlich verboten, Kinder zu schlagen oder zu demütigen („Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Dass dies alles ihnen massiv schadet, wissen wir schon wesentlich länger. Vom Gesetz ausgehend ist dann der zweite Schritt der hin zu einer Bewusstseinsveränderung in der Gesellschaft. Die Erziehungseinstellung wandelt sich, die Bereitschaft, sich einzumischen ist in der Gesellschaft größer geworden, so wie auch die Bereitschaft, sich Hilfe zu suchen.
Ich wurde 1977 geboren und bin groß geworden als sogenannte Kriegsenkelin. In einer Zeit, in die immer noch die Erziehungskultur der Schwarzen Pädagogik des Dritten Reiches hineinreichte. Der nationalsozialistische Erziehungsratgeber „Die deutsche Frau und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer wurde bis in die 80er Jahre in Deutschland gelesen und von vielen für richtig befunden. Darin ging es darum, das Kind nicht zu verweichlichen und zu verwöhnen, zu viel Berührung galt als schädlich, schreien lassen als richtig. „Befassen“ sollte man sich mit dem Kind nur zum Füttern, Wickeln und Waschen, aber nicht, um es zu beruhigen oder zu trösten. Sonst würde das Kind die Mutter auf lange Sicht tyrannisieren und manipulieren.
Heute weiß man, dass das Schreien der Babys meistens der Ruf nach Erfüllung psychischer Grundbedürfnisse ist. Es ist ein Ruf nach Nähe, Geborgenheit und Sicherheit. Früher wurden, wenn das Baby schrie, aber lediglich die körperlichen Grundbedürfnisse betrachtet: ist das Kind hungrig, müde, wund, ist ihm zu kalt, zu warm usw.? Konnte man nichts finden, wurde empfohlen, das Baby schreien zu lassen. Wie sich das anfühlen muss, als völlig orientierungsloses neu auf die Welt gepurzeltes kleines Leben, völlig ausgeliefert und alleine nicht überlebensfähig, stundenlang im Bettchen zu liegen und zu schreien und niemand kommt, kann sich jeder Mensch mit Empathiefähigkeit vorstellen. Nur genau diese Fähigkeit sollte den Eltern in dieser Zeit ausgetrieben werden.
Die meisten von uns, die in den 70er Jahren geboren wurden, wurden als Babys zu viel und lange schreien gelassen und haben insgesamt keine ausreichende Bindung erfahren. Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie, wenn meine Schwester als Baby geschrien hat, einen Kittel angezogen hat und sich die Hände desinfiziert, bevor sie meine Schwester hochgenommen hat. Um keine Keime auf das Kind zu übertragen. Gestillt wurden wir nicht. Gefüttert wurden wir so, dass unsere Arme rechts und links festgehalten wurden und eine andere Person hat vorne das Essen reingeschaufelt. Damit wir nicht mit den Händen in den Löffel greifen und alles schön sauber bleibt. Meine Eltern waren ganz verwundert darüber, dass ich das mit meinen Kindern anders mache. Übliche Strafen in meiner Kindheit waren Isolation im Kinderzimmer oder Anschweigen – beides der Abbruch von Bindung.
Meine Mutter war auch, als meine Kinder klein waren und ich müde vom ständigen Gewecktwerden in der Nacht immer ganz stolz darauf, dass meine Schwester und ich als Babys sofort durchgeschlafen haben – eigentlich von Anfang an. Das höre ich auch von vielen anderen heutigen Großeltern über die eigenen Kinder. Und die Verwunderung über die Babys von heute, die einfach nicht durchschlafen wollen. Wenn man Kinder zu lange schreien lässt, schlafen sie irgendwann vor lauter Erschöpfung ein, weil das Gehirn in den Notfallmodus schaltet und der Körper erschlafft. Macht man dies wiederholt, schreien sie irgendwann nicht mehr. Weil sie gelernt haben, dass niemand kommt. Das erschüttert nachhaltig das Urvertrauen, die Eltern-Kind-Bindung, es beeinträchtigt die emotionale Entwicklung und schadet sogar der Entwicklung des Gehirns.
All das war zu der Zeit durchaus üblich. So üblich, dass die meisten Eltern von damals auch heute gar kein Verständnis dafür haben und uns dafür kritisieren, wenn wir es anders machen. Ich denke, der Schmerz unserer Eltern darüber, woran es ihnen selbst als Kindern gemangelt hat und darüber, was sie uns angetan haben ist zu groß, als dass sie ihre Erziehungsmethoden angemessen reflektieren können. Also muss unsere Generation mit dem heutigen Wissen damit beginnen, zu reflektieren, was dieser Mangel an Bindung mit UNS gemacht hat. Damit wir ihn nicht an unsere Kinder weitergeben. Noch heute gibt es Schlaftrainings („Jedes Kind kann schlafen lernen“ von Annette Kast Zahn und Hartmut Morgenroth), wie kleine Kinder mit Schreien lassen in festgelegten Minutenabständen (Ferber-Methode) zum Durchschlafen gebracht werden können. Es liegt noch ein Weg vor uns!
In der Kindheit verursachte Bindungsstörungen können im Erwachsenenleben zu Bindungsschwierigkeiten und zu negativen Grundgefühlen führen. Gefühle des Verlassenseins, der Einsamkeit und des Ausgeliefertseins können im Erwachsenenalter an das Grundgefühl von damals erinnern. Diese mangelnde Bindung kann auch dazu führen, dass wir als Eltern in Stressmomenten mit unseren Kindern (oder Partner*in) immer wieder mit Wut oder Panik (über)-reagieren. Dann lässt mich die Provokation meines Kindes vielleicht ohnmächtig fühlen, weil ich mich an das Gefühl von Ausgeliefertsein erinnere. Die Wut meines Kindes macht mich aggressiv, weil ich mich auch immer zusammenreißen musste. Ich mache meinem Kind enormen Druck beim Homeschooling, weil ich selbst diesen Druck erlebt habe und funktionieren musste. Weil meine Leistung über dem stand, wer ich als Mensch war und wie es mir ging. Dann bin ich total verletzt und drehe durch, wenn mein Freund mich nicht versteht, weil ich in das Unverstandensein als Kind hineinkippe. Oder ich suche mir einen Partner, der mich genauso herabwürdigend behandelt, wie ich als Kind behandelt wurde und versuche (vergeblich) alles, damit er mir doch irgendwann die Anerkennung gibt, die ich brauche.
Selbstwert entwickelt sich nicht von selbst. Er wird den Kindern von den Eltern gegeben. Selbstwert entsteht durch Spiegelung (gespiegeltes Selbstwertempfinden), dadurch, dass Eltern dem Kind immer wieder zeigen, du bist gut so, wie du bist. Das passiert zu Beginn stark darüber, dass das Kind, wie oben beschrieben zuverlässig Nähe und Fürsorge erfährt. Je älter es wird, desto mehr ist das Kind darauf angewiesen, für seine ureigene Persönlichkeit positive Rückmeldung und Anerkennung zu erfahren.
Deswegen sollten wir uns immer fragen, wie es sich für uns anfühlen würde (oder wie es sich tatsächlich angefühlt hat), wenn wir so behandelt werden würden, wie wir gerade unser Kind behandeln. Würden wir uns gesehen, anerkannt und respektiert fühlen? Auf Instagram habe ich neulich einen Post gelesen darüber, dass ein Dreijähriger gefragt wurde, was schimpfen für ihn heißt. Die Antwort war: Schlagen mit der Zunge. Schimpfen ist ein Eingriff in die Integrität und Würde eines Menschen. Das Kind muss wissen, dass es angenommen und geliebt wird, egal, was es tut. Das heißt nicht, dass wir jedes Verhalten des Kindes gut finden oder akzeptieren, sondern dass wir die Persönlichkeit und die Gefühle des Kindes zu 100% anerkennen, ob es uns gefällt, ob wir es verstehen oder nicht.
Liebe ich mein Kind noch genauso, wenn es…
– schlecht in der Schule ist,
– großen Mist gebaut hat,
– sich anders entwickelt, als ich es mir vorstelle,
– einen Charakter hat, der meinem wenig ähnelt,
– seinen eigenen Weg geht…?
Geht es mir darum,…
– was die anderen denken,
– dass mein Kind beruflich erfolgreich ist,
– dass es für mich bequem ist,
– dass mein Kind etwas erfüllt, was ich nicht geschafft habe,
– oder etwas, das ich auch schaffen musste…?
Oder geht es mir darum, dass mein Kind glücklich wird im Leben? Von der Basis eines gesunden Selbstwertes aus können wir im Leben (fast) alles tun – oder es auch lassen!
Eine gute Freundin, die das Glück hat, eine Mutter zu haben, die ihre Bedürfnisse nach Bindung und Selbstwerterhöhung als Kind erfüllt hat, hat mir einmal erzählt, dass selbst, wenn es ihr schlecht geht, wenn etwas misslungen ist oder sie Ablehnung erfahren hat, dass sie dann traurig ist von einem glücklichen Ort aus. Das finde ich ein wahnsinnig schönes Bild, das uns helfen kann, unseren Kindern diesen Ort mitzugeben. Im Kindesalter wird dieser glückliche innere Ort erschaffen und aufgebaut durch Liebe und Zuwendung der Eltern – oder eben nicht. Haben wir nicht genug Anerkennung für unser Sein bekommen, laufen wir als Erwachsene oft verstärkt Anerkennung von außen nach, wir vergleichen uns, fühlen uns schnell verunsichert und minderwertig. Von einem glücklichen und sicheren Ort aus können wir viel eher mit Ablehnung, Fehlschlägen und Scheitern umgehen, als wenn wir diesen inneren Ort nicht haben. Dann können wir nur als Erwachsene mit viel Mühe und Hilfe von außen versuchen, uns diesen Ort nachträglich zu erschaffen.
Wenn unsere Grundbedürfnisse als Kind nicht ausreichend erfüllt wurden, kommt es als Folge davon zu Bewältigungshandlungen. Um den ursprünglich erlebten und verdrängten Entbehrungsschmerz des Kindes nicht fühlen zu müssen, entwickeln wir Glaubenssätze der vermeintlichen Wahrheit über uns und die Welt, um uns diesen Mangel zu erklären. Diese negativen Glaubenssätze können sein: Ich bin wertlos, ich genüge nicht, ich bin zu viel, ich bin nicht in Sicherheit usw. Diese Sätze verfestigen sich in unserem Unbewussten als vermeintliche Wahrheit und führen dazu, dass auch im Erwachsenalter Gefühle der Einsamkeit, der Wertlosigkeit, des Versagens und der Angst im Zusammenhang mit ähnlichen (Mangel)-Erlebnissen auftreten. Als Folge davon, eignen wir uns bestimmte Glaubenssätze vermeintlich sinnvoller Verhaltensweisen an, im Versuch, den Schmerz zu vermeiden und zu kontrollieren. Zum Beispiel: Ich muss stark sein, ich muss perfekt sein, ich darf nicht wütend werden, ich muss für die anderen sorgen usw.
Wenn wir unsere Bewältigungsstrategien nicht erkennen und versuchen, sie aufzulösen, kann es schnell passieren, dass wir diese Glaubenssätze auf das Kind übertragen: wenn ich stark sein muss, darf auch mein Kind nicht schwach sein, wenn ich nicht wütend werden darf, darf das Kind das auch nicht, wenn ich nicht genüge, genügt auch mein Kind nicht, wenn ich alleine klarkommen musste, muss es auch mein Kind. Wirklich frei spüren und entscheiden, wo unsere persönlichen Grenzen liegen, was wir dem Kind geben können und wollen und was nicht, welches Verhalten wir akzeptieren können und welches nicht und wie schnell wir unser Baby auf den Arm nehmen, wenn es weint, können wir auf gesunde Weise nur aus dem Erwachsenen-Ich heraus. Also aus dem Anteil unseres Selbst, der seine Gefühle und Gedanken wahrnimmt, einordnet und bewusst handelt. Und nicht aus dem unbewussten Teil heraus, in dem die negativen Eltern-Kind Erfahrungen abgespeichert sind und unreflektiert wiederholt werden. Wenn wir aus dem Geiste des rebellischen oder angepassten Kindes handeln oder aus dem kritischen oder überfürsorglichen Eltern-Ich, dann überlassen wir die Entscheidung unserem Unbewussten, das aus alten Mustern agiert und nicht reflektiert und bewusst.
Wenn wir damit beginnen, uns kognitiv UND emotional damit auseinanderzusetzen, welche Grundbedürfnisse uns als Kind nicht erfüllt wurden, wenn wir dadurch heilen und Selbstverantwortung übernehmen, wenn wir über diese Erkenntnis sprechen und sie teilen, anderen zuhören und sie ernstnehmen, dann können wir uns selbst verändern, das Leben unserer Kinder und das der Gesellschaft, die sich davon anstecken lässt. Es ist das größte Geschenk, das wir uns, unseren Kindern und der Welt machen können. Der Weg lohnt sich, weil wir uns dadurch wieder mehr Lebendigkeit und Sensibilität in unser Leben zurückholen. Philippa Perry hat das in ihrem Buch treffend beschrieben: Der Regler unserer Gefühle ist ein Master-Regler. Gefühle lassen sich nur im Ganzen hoch- oder runterregeln, entweder ich fühle viel (schöne und schmerzhafte Gefühle), oder ich fühle wenig.
Ich bin eine Verfechterin des Fühlens, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass das Leben dadurch reicher wird, dass schmerzhafte Gefühle viel schneller vorüber gehen, wenn ich nicht dagegen ankämpfe und dass sich die Beziehungen zu anderen Menschen maßgeblich verändern, dass echte Beziehung vielleicht erst dadurch möglich wird, dass wir uns ohne Masken von Angesicht zu Angesicht begegnen mit allem, was da ist.
Deswegen schließe ich mit Rainer Maria Rilke und einem Satz aus meinem Lieblingsgedicht: „Lass dir alles geschehn, Schönheit und Schrecken. Man muss nur gehen: Kein Gefühl ist das fernste.“