Soziale Fähigkeiten lernen – Warum Kinder nicht gut verlieren können und warum wir aufpassen müssen, wie wir das Brot durchschneiden

Soziale Fähigkeiten lernen – Warum Kinder nicht gut verlieren können und warum wir aufpassen müssen, wie wir das Brot durchschneiden


„Niemand wurde jemals geheilt, indem man ihn dazu brachte, sich zu schämen oder dumm zu fühlen.“ 
(Philippa Perry)
 
Genau wie alle anderen Fähigkeiten auch (laufen, sprechen, schreiben usw.) müssen Kinder soziale Fähigkeiten erst lernen und tun dies in unterschiedlichem Tempo und in unterschiedlichen Altersstufen. Sie lernen sie auf unterschiedliche Weise und jedes Kind durch andere Einflüsse. Nur eines ist immer gleich: Diese Fähigkeiten werden schneller, gesünder und nachhaltiger gelernt, wenn Kinder dabei wohlwollend, geduldig und liebevoll von uns Erwachsenen begleitet werden. Reine Kritik stößt keine Entwicklung an. Entwicklung findet nicht statt, weil wir unsere Kinder korrigieren und sagen, was sie besser machen sollen, sondern dadurch, dass wir sie bestärken und annehmen darin, wie sie sind.
 
Ich habe noch nie erlebt, dass eine erwachsene Person sich gewundert hätte oder ungeduldig wurde, dass ein Kind im Kita-Alter noch nicht lesen und schreiben kann, oder dass ein Baby noch nicht laufen kann. Bei den sozialen Fähigkeiten beobachte ich diese Ungeduld und dieses Unverständnis ständig: bei mir und bei anderen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle etwas tiefer graben und Verständnis schaffen.
 
Philippa Perry benennt vier soziale Fähigkeiten, die Kinder lernen müssen: Frustrationstoleranz, Flexibilität, Problemlösungskompetenz und Einfühlungsvermögen. 
 
Frustrationstoleranz: Frustration entsteht, wenn etwas anders läuft, als ich es will. Kinder können noch nicht viel Frustration aushalten. Für uns Erwachsene sind es oft Kleinigkeiten, die unsere Kinder zur Verzweiflung bringen: das verlorene Spiel, der Knoten, der nicht gelingt, das Eis, das der Vater nicht kauft usw. Frustration kann aber auch als Lernchance begriffen werden, um mit den Tücken des Lebens zurechtzukommen. Wir können unseren Kindern den Lernprozess ermöglichen, indem wir ihnen ihren Frust nicht ausreden, sie nicht ablenken, schimpfen oder bestrafen. Und auch, in dem wir ihnen nicht alles geben was sie wollen, wenn wir es nicht wollen, nur um des lieben Friedens willen, oder weil wir nicht aushalten, unsere Kinder traurig zu sehen. Frust und auch Traurigkeit sind Zustände, die zum Leben dazugehören, davor können wir unsere Kinder nicht beschützen. Aber wir können dafür sorgen, dass sie einen Umgang damit lernen und dass sie sich auf diesem Weg nicht blöd und falsch fühlen. Wir können sie liebevoll begleiten, in dem wir Verständnis für ihren Frust aufbringen. Im Wissen, dass sie gerade etwas Wichtiges lernen. Das Kind kann dann in Verbindung zu sich und seinen Gefühlen bleiben und seinen Gefühlszustand energetisch abarbeiten. 
 
Der Ablauf, wenn Kinder durch ihren Frust gehen ist folgender: 

  1. Das Kind hat ein Bedürfnis – das Elternteil sagt „Nein“ (oder etwas ist nicht möglich, gelingt nicht)
  2. Das Kind insistiert / verhandelt – (ggf. ändert das Elternteil die Meinung zu einem „Ja“). Das Elternteil bleibt bei seinem „Nein“
  3. Das Kind erlebt Frust („ich will und kriege nicht“). Dieser Prozess muss körperlich und gefühlsmäßig durcherlebt werden. Durch Schreien, Weinen, sich auf dem Boden winden, auf Dinge einschlagen (die nicht kaputt gehen oder das Kind verletzen können), aufstampfen usw.
  4. Dann kehrt Ruhe im Organismus ein

(In: Heller, Laurence: Entwicklungstrauma heilen)

Die Fähigkeit zur Selbstregulation wird im Stirnhirn gesteuert. Sie entwickelt sich langsam, aber nachhaltig. Diese Lernerfahrung führt zu einer starken Resilienz (psychische Widerstandsfähigkeit) im Erwachsenenalter. 
 
Vielleicht hilft uns dieses Wissen, das Kind durch seine Frustration durchgehen zu lassen und nicht am liebsten eine Taste zu haben, um das Gefühls-Gewitter zu stoppen oder zu skippen.
 
Jesper Juul hatte in einem seiner Bücher ein tolles Beispiel zu diesem Thema: Ein Kind will vor dem Essen ein Eis haben. Der Vater will das nicht. Er erklärt warum. Die Tochter wird immer wütender. Er will, dass sie es einsieht und erklärt es ihr immer wieder. Damit überträgt er die Verantwortung für sein Wohlempfinden an die Tochter. Der Vater muss einmal klar sagen, was er will, ohne innerlich ambivalent zu sein und ohne schlechtes Gewissen. Und dann weggehen. Die Tochter wird weinen und das hilft ihr, sich wieder zu regulieren. 
 
Manchmal fällt uns das schwer, die starken Gefühle des Kindes auszuhalten. Vielleicht können wir ein inneres Bild finden, das uns hilft, nicht mit dem Gefühlssturm des Kindes zu verschmelzen, damit es selbst wüten kann, wie es will. Z.B.: Da drüben tobt ein Sturm. Ich aber bin hier in meiner eigenen Welt. In der ist es ruhig und friedlich. Von dieser Ruhe aus kann ich den Sturm beobachten und Hilfe anbieten und einen Arm in die andere Welt hineinstrecken, wenn das passt. Auch tief durchatmen oder den Raum mal kurz verlassen kann hilfreich sein. Wichtig ist es, uns nicht in den Sturm hineinziehen zu lassen. Dann verlieren wir die Geduld und die Nerven, laugen uns aus und sind auch dem Kind keine Hilfe. Es braucht eher den Baum, an dem es sich abarbeiten kann, als einen zweiten Sturm. Je mehr Frustrationstoleranz wir als Erwachsene vorleben, desto besser kann das Kind von uns als Vorbild lernen.
 
Flexibilität: Schaffe ich es, meine Frustration auszuhalten, kann die zweite Kompetenz zum Tragen kommen. Je mehr Frustrationstoleranz das Kind erlernt hat, desto schneller kann es eine Alternative oder einen Kompromiss mit uns suchen, also flexibel auf die gegebenen Umstände reagieren. Auch die Fähigkeit zur Flexibilität muss sich Schritt für Schritt entwickeln. Bei sehr kleinen Kindern erleben wir oft eine Versteifung auf einen bestimmten Ablauf, eine bestimmte Weise des Tuns (eine bestimmte Art, wie das Brot durchgeschnitten werden muss, eine bestimmte Marmelade, die immer da sein muss, ein bestimmter Weg, der immer genommen werden muss…). Das hat auch damit zu tun, dass Kinder noch so wenig selbst Gestalter*innen der Dinge in ihrem Alltag sein können. Und das geht gegen ihr Bedürfnis der Selbstbestimmung. Je mehr Sicherheit ein Kind erlangt, dass seine Bedürfnisse gesehen werden, desto flexibler kann es mit der Zeit reagieren. Zu Beginn müssen wir diejenigen sein, die mehr Flexibilität zeigen, dann können es die Kinder von uns lernen. 
 
Wenn Kinder flexibel reagieren müssen, weil sich etwas ändert (Unterbrechung im Spiel, Änderung des Zeitplans, eines Ablaufs, der Lebensumstände), dann brauchen sie einen Erwachsenen, der es liebevoll begleitet (ihm erklärt, was warum passiert) und die Gefühle auffängt. Kinder können nur ein bestimmtes Maß an Flexibilität aufbringen, wir dürfen sie nicht überfordern. Sie brauchen eine oder mehrere Ankündigung(en) und einen Moment Zeit, um sich auf die geänderten Umstände einzustellen. Wir müssen schauen, ob unser Kind bereit ist und versuchen, so viel Zeit einzuplanen, dass das gelingt. Das geht natürlich nicht immer. Uns muss nur bewusst sein: Wir verantworten die Überforderung des Kindes, nicht das Kind.  
 
Wenn wir unser Kind also z.B. früher als sonst aus der Kita holen, weil wir einen Termin haben, dann ist es hilfreich, das schon am Abend vorher und nochmal am Morgen vor dem Bringen und beim Abgeben des Kindes anzukündigen. Das Kind wird es im Laufe des Tages wieder vergessen, aber es hat die Information dann schon einmal gehört, sie ist nicht neu. Es hat heute nach dem Mittagessen kürzer Zeit zum Spielen mit seinen Freund*innen. Wenn wir dann (mit zeitlichem Puffer) in die Kita kommen und das Kind ist mitten im Spiel, dann können wir ankündigen, dass es noch kurz spielen darf und wir aber in 10 Minuten (oder 5 Minuten) gehen. Bis zum Zeitpunkt des Aufbrechens können wir noch zweimal die restliche Zeit ansagen. Das hilft dem Kind, sich langsam vom Spiel und den Spielkamerad*innen zu lösen und den Übergang zur nächsten Tätigkeit zu schaffen. Ich kenne das noch aus meiner Zeit als Kita-Mama, dass ich in die Kita hetze, mit ganz knappem Zeitfenster bis zum Termin und dann total genervt bin, dass meine Kinder sich nicht sofort loseisen vom Spiel und sich anziehen. Das würde ich heute anders machen!  
 
Problemlösungskompetenz: Wenn Kinder an dem Punkt sind, dass sie ihren Frust ausgehalten und sich geöffnet haben für eine flexible Lösung, dann erst kommt der Moment, in dem sie Problemlösungskompetenz lernen können. In dem sie Ideen entwickeln, wie die Situation zu ihrem Wohl und / oder dem Wohl der anderen gelöst werden kann und wo sie es auch zu tun versuchen. Gerade kleine Kinder können sich nicht vorstellen, dass ihr Problem gelöst werden kann und wie. Dazu fehlt ihnen die Erfahrung. Kinder leben in der Gegenwart, wir denken darüber nach, was in der Zukunft passieren muss. Kinder haben noch keinen Überblick über Tages- und Wochenabläufe und die damit zusammenhängenden To-Dos. Das Gehirn kann das noch nicht überblicken. Sie wissen oft nicht, was sie brauchen, um sich wieder besser zu fühlen. Wir können nicht alle Probleme lösen, das Kind wird oft frustriert sein. Es gibt aber Momente, in denen wir erkennen, was das Kind braucht und es ihm geben können (z.B. eine Pause auf einem langen Weg, obwohl wir gleich nach Hause wollen, es sein Spiel noch zu Ende spielen lassen (an unserem Zeitmanagement arbeiten)). Und wir können das Kind fragen, was es braucht, wenn es sich unkooperativ verhält und flexibel reagieren soll. Irgendwann lernen Kinder selbst zu erkennen und zu verbalisieren, was sie brauchen. Mein Sohn war neulich total genervt und meinte: „Ich brauche Zeit für mich und gehe jetzt ins Kinderzimmer und will nicht gestört werden“. Ich dachte: „Wie toll, dass du herausgefunden hast, was du brauchst und deine schlechte Laune nicht an uns auslässt.“
 
Einfühlungsvermögen: Kinder können oft noch nicht verstehen, was in anderen Menschen emotional und kognitiv vor sich geht. Sie sind dann ganz mit sich und ihren Emotionen beschäftigt und nicht in der Lage empathisch zu sein. Ihre Gefühle sind viel heftiger, als die von Erwachsenen und brauchen ihre ganze Aufmerksamkeit. Bis Kinder Empathie erlernt haben, kann bis zum 6./7. Lebensjahr dauern. Auf sich selbst bezogen zu sein, sichert dem Baby und Kleinkind sein Leben. Es muss sich mit seinen Bedürfnissen laut bemerkbar machen, um zu bekommen, was es zum Überleben braucht. Je größer das Ausdrucksvermögen wird, über das ein Kind verfügt, desto einfacher gelingt es ihm, seine Bedürfnisse auszudrücken. Erst der nächste Schritt kann es sein, sich in die Bedürfnisse und Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen. 
 
Empathie wird nicht erlernt, indem Kinder für soziales Verhalten Lob und Belohnungen bekommen und für unsoziales Verhalten eine Strafe oder Ärger. Empathie wird erlernt durch Beziehung. Weil Kinder lernen, dass dadurch ein harmonisches Zusammenleben entsteht und dass es bereichernd ist, etwas für andere zu tun. Kinder wollen nützlich sein für die Gemeinschaft und etwas beitragen.
 
Auch Höflichkeit lernen unsere Kinder von uns als Vorbild und ahmen uns nach. Sie sehen, wie wir mit anderen Menschen umgehen (uns bedanken, um etwas bitten). Deswegen können wir, wenn unsere Kinder noch klein sind, uns in ihrem Namen bedanken oder entschuldigen mit dem Wissen, dass echte Höflichkeit in ihnen reifen muss. Einstudierte Höflichkeit ist keine echte Höflichkeit, wenn sie nicht von innen kommt. Das zu lernen, dafür müssen wir unseren Kindern die Zeit geben.
 
Erleben unsere Kinder uns als empathische Eltern, die in der Lage sind, sich in ihre Welt einzufühlen, haben sie das beste Vorbild, diese Fähigkeit auch zu erlernen. Wenn mein Kind sich unkooperativ, aggressiv oder unangemessen verhält, bin ich in der Lage, mich empathisch einzufühlen und nach den Ursachen zu suchen? Ich muss in dem Moment in der Lage sein, mein Kind im Jetzt zu sehen und nicht an das zu denken, was für mich in Zukunft ansteht. Wenn ich es schaffe, mitzufühlen, zu spiegeln, das Verhalten zu übersetzen und Rücksicht auf die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes zu nehmen, dann werden unsere Kinder uns und anderen Menschen das auf lange Sicht ebenso entgegenbringen. Ich erlebe das schon jetzt bei meinen Kindern, die 7 und 11 Jahre alt sind, dass sie wollen, dass es auch den anderen gut geht, die andere trösten und sich in die Lage von Menschen in ganz anderen Lebensumständen hineinversetzen können. Das ist sehr schön und bereichernd zu beobachten.


Die Kommentare sind geschlossen.