Scham und Schuld – Abschied nehmen vom romantischen Bild der perfekten Mutter (oder des perfekten Vaters)

Scham und Schuld – Abschied nehmen vom romantischen Bild der perfekten Mutter (oder des perfekten Vaters)

Ich höre und erlebe es überall. Seit ich Mutter bin. Ich erlebe es selbst und erlebe es bei anderen. Vor allem bei uns Frauen: Schuld- und Schamgefühle darüber, dass wir als Mütter nicht gut genug sind. Dass wir so vieles falsch machen. Dass wir es hätten besser machen müssen. Ich erlebe große Angst, unseren Kindern nachhaltigen Schaden zugefügt zu haben. 

Ich finde es sehr wichtig, sich selbst als Mutter und überhaupt als Mensch immer wieder zu reflektieren und zu versuchen, sich weiterzuentwickeln. Das ist mein Job, Menschen in ihrer Entwicklung als Eltern zu begleiten und so lebe ich auch mein eigenes Leben. Meine Fragen auf diesem Weg sind: Wie können wir es schaffen, uns dabei nicht vor Schuld- und Schamgefühlen zu zermürben? Wie können wir lernen, uns selbst zu verzeihen? Wie können wir unser überhöhtes Mutterbild überprüfen und an die Realität anpassen? Wie können wir über Fehler und über Scham sprechen?

Vom Thema Scham und Schuldgefühle handelte schon mein erster Newsletter im Mai 2018. Da schildere ich eine Situation mit meinen Kindern am 1. Mai-Feiertag. Ich wollte, dass wir als Familie etwas zusammen unternehmen. Wir konnten uns nicht einigen. Darüber sind wir so in Streit geraten, dass ich meinen damals vierjährigen Sohn angeschrien habe, als er mich vor Wut getreten hat. Doch wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich ihn nicht nur angebrüllt – ich habe zurückgetreten. Nicht fest. Aber ich habe ihn getreten. Ich habe den Newsletter damals, weil es der allererste war, von meiner Kollegin gegenlesen lassen. Und sie hat gesagt: „Den Teil mit dem Treten würde ich rausnehmen. Die Menschen kennen dich noch nicht und das wirkt sonst echt heftig.“ Doch jetzt schreibe ich darüber. Weil die Scham, über die ich in dem Text damals geschrieben habe, damit zusammenhängt. Und während ich das jetzt gerade schreibe, bahnt sie sich immer noch ein wenig ihren Weg durch meine Eingeweide. 

Je mehr ich privat und beruflich dazu forsche, desto mehr nehme ich wahr: ich bin nicht allein. Ich bin verblüfft, dass Eltern immer mehr auch darüber sprechen, dass es ihnen schon einmal passiert ist, dass sie ihr Kind geschlagen haben. Eine Forsa Umfrage, die im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ durchgeführt wurde, hat ergeben, dass 40 Prozent der Befragten ihrem Kind im Laufe eines Jahres mindestens einmal auf den Po geschlagen haben. 10 Prozent haben ihrem Kind eine Ohrfeige gegeben. 

Ich wünsche mir, dass alle Kinder gewaltfrei aufwachsen. Sowohl frei von körperlicher als auch von emotionaler Gewalt. Das möchte ich klar benennen. Dass wir Kinder nicht schlagen dürfen, ist seit dem Jahr 2000 gesetzlich geregelt. Im Bürgerlichen Gesetzbuch § 1631 steht: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Es geht also nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch um seelische Verletzungen. Wenn wir unsere Kinder anschreien, reagiert deren Gehirn ähnlich, wie bei körperlichen Schmerzen. Auf Instagram habe ich mal das Zitat eines Kindes gelesen: „Schreien ist Schlagen mit der Zunge.“ 

Die meisten Eltern in Deutschland wenden physische und psychische Gewalt nicht aus Überzeugung an, sondern aus Überforderung. Deswegen ist es wichtig, über diesen Zusammenhang zu sprechen. Nur so können wir den Ursachen auf den Grund gehen und Veränderung bewirken. Was hat dieses Gefühl von Hilflosigkeit ausgelöst? Sind es ungünstige und überfordernde Lebensumstände? Sind es herausfordernde Momente mit den Kindern, in denen unsere eigene Lebensgeschichte mit unseren Eltern getriggert wird? Sind es unsere überhöhten Ansprüche?

Jesper Juul spricht beim Menschen von zwei Ebenen. Einmal von dem Bild, das wir uns von uns selbst machen und vom realen Verhalten und sagt dazu: „Identifiziere dich erst einmal mit deinem Verhalten.“ Wenn ich ungeduldig bin oder laut werde, dann bin ich vorher über meine Grenzen gegangen. Dafür sollten wir Verständnis aufbringen. Oft müssen wir uns scheinbar zerreißen, um alles unter einen Hut zu bekommen, was das Leben (und wir selbst) von uns fordern. Wenn wir das erkennen, können wir uns damit auseinandersetzen und uns fragen: Was können wir verändern? Sowohl an unseren Lebensumständen als auch an unserer Einstellung? Und Geduld dafür aufbringen, dass Entwicklung und Veränderung oft länger brauchen, als wir es uns wünschen. 

Ich denke, wir sollten uns als Eltern von dem Tabu lösen, über Schuld, Scham und Fehler (kleine und große) zu sprechen. Nur um nach außen um jeden Preis das Bild der Mutter aufrecht zu erhalten, die alles hinbekommt. Um nicht angeklagt zu werden, bewertet, vor anderen als Versagerin zu gelten, die eben nicht immer alles hinbekommt. Die manchmal einfach gerne weinend zusammenbrechen würde, damit mal jemand anderes übernimmt. 

Die Autorin und Schamforscherin Brené Brown sagt, dass es bei Scham um Folgendes geht:

  1. Die Scham verstehen und erkennen, welche Botschaften und Erwartungen Scham bei mir auslösen. 
  2. Kritisches Bewusstsein üben, in dem ich die Botschaften und Erwartungen einer Realitätsprüfung unterziehe, die mir vermitteln wollen, dass Unvollkommenheit gleichbedeutend wäre mit Unzulänglichkeit. Sind die Erwartungen realistisch? Handelt es sich um Vorgaben, die ich selbst erfüllen möchte, oder solche, die andere verlangen oder zu verlangen scheinen?
  3. Anhand der körperlichen Reaktionen erkennen, wann die Scham mich in ihren Klammergriff zu nehmen droht und mich durch sie hindurch fühlen.
  4. Mit mir so sprechen, wie ich mit jemandem sprechen würde, der mir wirklich am Herzen liegt und den ich trösten möchte. 
  5. Meine Hand ausstrecken und meine Geschichte mit Menschen teilen, denen ich vertraue. Über Scham sprechen, das Wort Scham benutzen. Darüber sprechen, wie ich mich fühle und um das bitten, was ich brauche.

Das finde ich einen sehr hilfreichen Leitfaden. Es geht darum, sich von der Scham nicht kleinkriegen zu lassen, sondern sie zu erforschen. 

Über Scham zu sprechen und sie zu verstehen erleichtert. Damit wir uns nicht im stillen Kämmerlein mit ihr herumquälen. Wenn wir anfangen darüber zu sprechen, werden wir merken, dass wir nicht allein sind. Wir sind viele. Sehr viele. Und sprechen hilft. Es ist der erste Schritt, um uns aus der Scham zu lösen. Scham ist ein einsames Gefühl. Ich meine damit nicht darüber sprechen im Sinne einer Beichte und dann einfach weitermachen, wie bisher (diese Form habe ich schon in meiner katholischen geprägten Kindheit nicht verstanden). Auch nicht im Sinne der Haltung: „So bin ich eben, da müssen meine Kinder mit leben“. Wenn wir aus Überforderung unseren Kindern gegenüber immer wieder gewaltvoll handeln, sollten wir uns dringend Hilfe suchen. Ich meine damit vielmehr das sich Öffnen im Sinne einer Anerkennung der Lage. Im Sinne von menschlicher Verbindung und Austausch. Im Sinne von Erbarmen mit der eigenen menschlichen Unperfektion. Und im Sinne von Selbstliebe und Selbstannahme. 

Und gleichzeitig im Sinne von Verantwortung: „So ist es im Moment und ich habe die Möglichkeit und Fähigkeit, etwas zu verändern.“ Sich selbst fertig zu machen, führt uns nicht weiter. Erkennen wir unser Gefühl von Scham und öffnen uns ihm gegenüber, kann der Schmerz darüber hochkommen und durchlebt werden, dass wir es gerne besser gemacht hätten, dass unser Kind sich wegen uns schlecht gefühlt hat, dass wir gerne schon jetzt bessere Eltern wären und es (noch) nicht schaffen. In mir kommt immer wieder der Schmerz darüber hoch, dass ich gerne mehr gewusst hätte vor 12 Jahren, als meine Tochter zur Welt kam – über Kinder und auch über mich selbst. Ich wäre gerne bewusster gewesen und mehr bei mir. 

Die Anerkennung der Realität und das Durchleben des damit zusammenhängenden Schmerzes kann heilsam sein. Verantwortung übernehmen heißt, mich von der Scham-Umklammerung zu befreien, um mich dem zu stellen, was ich denke, fühle und tue. Dies zu reflektieren und immer mehr mit meinen Werten in Einklang zu bringen. Ich kann mich bei meinen Kindern entschuldigen (und sollte das auch tun). Ich kann – soweit das möglich ist – meine Lebensumstände verändern, damit mehr Kraft da ist, geduldiger zu sein und an mir zu arbeiten. Ich kann mir auf diesem Weg Unterstützung holen.

Und ich kann meine Ansprüche überprüfen. Häufig sind wir Opfer unserer völlig überhöhten Ansprüche. Erziehung ist ein Prozess und kein Produkt, das irgendwann fertig ist. Als Eltern dürfen wir Fehler machen. Wir können uns verzeihen, unsere Fehler reflektieren, Erkenntnisse haben, versuchen, es anders zu machen, wieder Fehler machen usw. Auf der Grundlage des Verzeihens wird es mir überhaupt erst möglich, als Mutter zu wachsen. Sonst bin ich ständig mit der Kompensation meiner Fehler beschäftigt. Oft haben wir ein Idealselbst von uns erschaffen mit diversen „Ich darf niemals…“- oder „Ich muss immer…“-Regeln. Wo kommt diese Stimme her? Vergleiche ich mich hier mit anderen Müttern, die scheinbar alles perfekt machen? Will ich mich so stark von der autoritären Erziehung meiner Eltern abgrenzen, dass ich aus mir eine „heilige Mutter“ machen will? Sind das noch meine Regeln oder hat sich diese Stimme verselbstständigt? Und wie möchte ich in Zukunft mit dieser Stimme umgehen?

Jesper Juul hat einmal geschrieben: „Seid nicht so perfektionistisch. Bis man wirklich gut ist im Erziehen, muss man mindestens vier Kinder haben. Aber glücklicherweise brauchen und wollen Kinder keine fix und fertigen Eltern. Kinder haben viel Verständnis für Fehler – sie machen ja selbst den ganzen Tag welche und lernen daraus. Eltern fragen mich ständig: Ist es erlaubt, Kindern gegenüber laut zu werden? Natürlich ist es das, man darf heulen, schreien, alles Mögliche. Kinder brauchen lebende Eltern. Sie brauchen keine Schaufensterpuppen.“

Wir sollten uns von unserem Idealselbst in unser Realselbst zurückfallen lassen und es annehmen in all seiner Schönheit und Hässlichkeit. Scham ist das destruktivste Gefühl, das es gibt. Es kostet sehr viel Kraft, dieses Gefühl wegzudrücken oder auszuhalten. Diese Kraft können wir für Schöneres nutzen, für schöne Momente mit unseren Kindern oder mit uns allein – und für Wachstum und Entwicklung. Mit „hässlich“ meine ich alles Unperfekte. Und Kinder brauchen unperfekte Eltern. Weil Eltern auch Menschen sind und wir unseren Kindern ja nicht Perfektion als Maßstab vorleben wollen, an dem sie sich orientieren. Mit diesem Blick wird das Hässliche wieder schön, weil es Lebendigkeit und alle Facetten des menschlichen Daseins beinhaltet.

Brené Brown schreibt, es ist ein Trugschluss, dass Perfektionismus, also der Glaube, alles perfekt zu machen, heißt, niemals Scham empfinden zu müssen oder Beurteilungen ausgesetzt zu sein. Perfektionismus ist keine Selbstverbesserung. Beim Perfektionismus geht es im Kern um den Versuch, Bestätigung zu erhalten. Die meisten Perfektionisten wurden in der Kindheit für Erfolge und Leistungen gelobt. Irgendwann auf dem Weg haben sie das gefährliche und hinderliche Glaubenssystem vollständig internalisiert: „Ich bin, was ich zu Stande bringe und wie gut ich es hinbekomme. Bitte lass mich nur Vollkommenes leisten.“ Ein gesundes Bestreben ist nach innen gerichtet: Wie kann ich mich verbessern? Perfektionismus ist nach außen gerichtet: Was werden die anderen denken? Perfektionismus bedeutet, sich zu verbiegen. Wenn wir uns vom Perfektionismus befreien wollen, müssen wir die Reise von der Einstellung „was werden bloß die Leute von mir denken?“ zu der Haltung „ich bin grundsätzlich gut genug“ unternehmen. Diese Reise beginnt mit Schamresillienz, Selbstmitgefühl und dem Bekenntnis zu unserer Geschichte. Um die Wahrheit darüber zuzulassen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir glauben und wie unvollkommen unser Leben ist, müssen wir bereit sein, innezuhalten und die Schönheit unserer Kratzer, Schrammen und Risse, unserer Unzulänglichkeiten, zu akzeptieren. Wir müssen freundlicher und sanfter zu uns und zu anderen werden.

Und was soll das überhaupt sein: Die perfekte Mutter? Bei dieser Frage hat die Gedankenspirale freie Fahrt. Ist es die Mutter, die immer alles für ihre Kinder tut, so dass diese immer und zu jedem Zeitpunkt alle ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen und glücklich sind? Dann kommt sicher die innere Stimme mit dem Einwand: „Aber es ist ja auch wichtig, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, um für das Kind als Mensch sichtbar zu sein und um Vorbild zu sein. Habe ich mein Kind jetzt verwöhnt, bin ich ein schlechtes Vorbild?“ Auf der anderen Seite können wir uns ständig fragen: „War ich egoistisch? Bin ich nicht genug auf die Bedürfnisse des Kindes eingegangen? Warum habe ich nicht genug Kraft, um geduldiger zu sein?“ Und darauf folgen die Fragen: „Wie oft darf ich ungeduldig sein? Und wieviele Fehler darf ich machen?“ 

Als ich meinem achtjährigen Sohn neulich gesagt habe, wie erschöpft ich bin, hat er mir gesagt: „Dauernd bist du erschöpft. Andere Mütter ziehen auch 18 Jahre ihre Kinder groß.“ Das hat gesessen! Da hatte ich mein ganz persönliches Gedankenkarussell: „Spreche ich zu viel von meinem Erschöpftsein? Ist das nicht auch wichtig, damit die Kinder meine Stimmung nicht auf sich beziehen? Oder bekomme ich es nicht geregelt, mich besser zu entlasten? Darf ich nicht auch erschöpft sein, wenn mein Sohn krank ist und nicht auf Klassenfahrt kann, ich arbeiten muss und dann mein Ex-Mann Corona bekommt und nicht einspringen kann?“ Kinder treffen ja gern mal im richtigen Moment den wunden Punkt.

Wo liegt also eine gute Mitte zwischen Perfektion und völligem Versagen, da wo Unperfektion und es Hinbekommen sich treffen? Zwischen der Erfüllung meiner eigenen Bedürfnisse und denen der Kinder? Wie kann ich das alles wissen? Die Antwort ist: Ich kann es nicht wissen. Und es gibt nicht den perfekten Weg. Alles, was ich machen kann, ist mich immer mehr mit mir zu verbinden, um meine eigene Wahrheit zu spüren und ihr zu folgen. Und eine Ahnung von meinem eigenen Richtig zu bekommen.  

Und der eigene Weg als Eltern ist keine Jacobs-Krönung-light-Kaffee-Werbung aus den 90er Jahren. Die Bilder dieser Werbung sind mir wie ins Gehirn gebrannt: da ist eine blonde, schlanke, schöne Frau, die schon morgens (wunderschön und frisch) strahlend aus dem Bett springt. Als Journalistin ganz dynamisch wichtige Männer im Anzug auf der Treppe eines ganz wichtigen Gebäudes interviewt. Sich dann (lachend) auf ihre Rollerskates schwingt, weil sie natürlich auch Sport macht (und dabei nicht schwitzt und rot wird und sich auch gar nicht dazu überwinden muss, weil es ja so großen Spaß macht), natürlich zusammen mit Freunden (alle wunderschön und schlank). Die danach mit ihrem gutaussehenden Partner schick ausgeht und dann mit ihm in ihr wunderschönes Zuhause kommt und ganz harmonisch mit ihm einen Kaffee trinkt. Es ist offensichtlich: die zwei müssen niemals in ihrem Leben in eine Paartherapie, weil es einfach so harmonisch ist bei den beiden. Ich weiß, wie ich schon damals mit knapp 20 Jahren dachte: Wie soll ich da jemals rankommen? Das ist ein häufiges Bild, das wir vermittelt bekommen, in der Werbung und von der Gesellschaft. Und vor allem als Mütter.


Das romantische Bild von der happy family, in der die Kinder lachend über Blumenwiesen springen, ist in Wahrheit ein Bild aus der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Mutterrolle verherrlicht wurde. Um die Frau klein zu halten, um die Kinder klein zu halten – um die Männer für den grausamsten Krieg aller Zeiten zu instrumentalisieren. Die Erziehung der NS-Zeit ist weit von Blumenwiese entfernt – weiter geht es kaum. Wie gewaltvoll muss ein Kind seine eigene Würde, Integrität und sein Gewissen ausgetrieben bekommen, um als Erwachsener in dieser menschenverachtenden Maschinerie mitzumachen? Wie entmenschlicht waren viele Menschen damals? Und wie haben diese entmenschlichten Menschen ihre Kinder in dieser Zeit erzogen? Blumenwiese war da nicht.

Und Blumenwiese gibt es nicht. Wer uns das erzählen will, verschleiert die Realität. Unter dem weißen Tischtuch modert dann alles vor sich hin. Die Gewalt, die Unterdrückung – und die Scham. Denn romantisierte überhöhte Bilder und Ansprüche führen zu Scham. Weil diese Bilder niemals erfüllt werden können und deswegen alles Unperfekte unter den Teppich gekehrt werden muss. Bei uns selbst und auch bei unseren Kindern. In der autoritären Erziehung wurde viel mit Beschämung des Kindes gearbeitet, damit es nach außen vorzeigbar ist und funktioniert. Beschämung zerstört Schritt für Schritt die Integrität und Identität. Das kann soweit führen, dass unser innerer Kern zerbrochen wird. Wir sollten aufhören aufgrund von überhöhten Ansprüchen unsere Kinder zu beschämen. Wir sollten aufhören aufgrund von überhöhten Ansprüchen uns selbst zu beschämen. Wir sollten das weiße unbefleckte Tischtuch vom Tisch reißen und diese Spirale durchbrechen. Damit alles, was da ist, sichtbar werden kann.

Die Realität als Eltern ist folgende: Wir sind gestresst, haben schlecht geschlafen, haben Druck, sind überlastet, haben schlechte Laune, müssen tausend Dinge unter einen Hut bringen (Job, Kinder, Partnerschaft, Freundschaft, Hobbies…). Wir haben eine Biografie und biologische Begebenheiten, die über unsere Resilienz bestimmen. Wir müssen mit Trauma und Erkrankungen zurechtkommen. Und dann kommen dazu noch die unvorhergesehenen kleinen und großen Dinge (Kind krank, Unfall, Job verloren, Fahrrad geklaut, Geldsorgen, Trennung, Konflikt mit Freund*in oder Arbeitskolleg*in, Umzug…). Dieses verrückte Chaos ist unser Leben. Und mitten in diesem Chaos ziehen wir Kinder groß. Und versuchen dabei, unser Bestes zu geben. Auch dann, wenn wir vielleicht Eltern hatten, die nicht ihr Bestes gegeben haben! Je weniger ich Eltern hatte, die mir als Vorbild dienen, desto härter wird mein Weg wahrscheinlich sein, die Mutter oder der Vater zu werden, die oder der ich sein will. Auch das sollten wir nicht außer Acht lassen. Und uns auf unserem Weg, bessere Eltern zu werden, selbst die Hand reichen. Denn nicht alle beschreiten diesen Weg. Wir sollten anerkennen, was wir alles leisten bei dem Versuch, es besser zu machen – es gut zu machen. Und allein die Tatsache dieses Bemühens, aller widrigen Umstände zum Trotz, verdient für mich einen Orden. Und ganz viel Respekt und Demut – vor dem Leben als Eltern. 

Früher als Kind habe ich mir die Welt oft als Knetwelt vorgestellt, in der alles eine ganz klare Form hat und sauber, ordentlich und überschaubar ist. Das hat mich innerlich beruhigt. Weil sich das nach Kontrolle angefühlt hat. Aber die Welt und vor allen Dingen die Menschen und die menschlichen Beziehungen sind keine Knetwelt. Das alles ist komplex, unübersichtlich, verwirrend, überfordernd, schmerzhaft – für manche mehr, für manche weniger. Diese Tatsache bereitet mir oft genug Stress- und Überforderungsgefühle. Das sind die Momente, in denen ich froh bin, dass ich mich immer wieder an meine Exceltabellen setzen und die Budgetplanung für ACT überarbeiten kann. Da ist alles klar (wenn auch nicht immer erfreulich). Aber wenn alle Zahlen, Formeln und Bezüge richtig eingetragen sind, dann ergibt sich über mehrere Seiten und Unterseiten eine ganz klare übersichtliche Struktur. Da gibt es nichts dran zu rütteln. Das war immer das, was ich an Mathe mochte: 2 + 2 = 4. Schluss aus! Und trotz aller Sehnsucht und der Schmerzen wäre es frustrierend, leer, traurig, einsam und langweilig, wenn das Leben eine Excel-Tabelle wäre. 

Auch wenn wir nicht alles kontrollieren, steuern und perfekt machen können, wir haben als Menschen ein großes Wachstums-Potential. Stellen wir uns unserer Scham, können wir auf dieses Potential zurückgreifen. Wir verfügen über die vier menschlichen Gaben, die Veränderung ermöglichen: Selbstwahrnehmung, Gewissen, Vorstellungskraft und freier Wille. Die Schritte auf dem Weg zur Veränderung setzen an bei der eigenen Präsenz (ganz im jetzigen Augenblick zu sein), bei der Schulung des Bewusstseins (mich selbst wahrzunehmen und zu verstehen). Um dann zu einer Authentizität zu finden, bei der ich nach meinen eigenen Werten handle. Von einem annehmenden Ort aus können wir erforschen, was zu den Gefühlen, Impulsen und Handlungen geführt hat, die ich hinterher bereue, oder für die ich mich schäme. Und damit die eigene Entwicklung anstoßen. 

Und diese Entwicklung ist keine Krönung light Werbung – es ist eine lange Reise (mit einigen Aufs und Abs). Entwicklung braucht sehr viel Zeit und Arbeit. 80-90 Prozent unseres Denkens, Handelns und Fühlens sind vom Unbewussten gesteuert. Ein Großteil unserer Wahrnehmung ist also Projektion. Wenn wir Jahrzehnte unseres Lebens mit unseren Gedanken, Gefühlen und Handlungen immer auf die gleiche Autobahn aufgefahren sind, dann braucht es eine ganze Weile, bis wir eine Schneise für eine neue Auffahrt auf eine andere Straßen schlagen können. Durch das kontinuierliche Üben von Präsenz, Bewusstsein und Authentizität werden wir uns weiterentwickeln. Schritt für Schritt. Druck beschleunigt das Ganze nicht und „das Gras wächst nicht schneller, wenn wir daran ziehen.“ Das gilt für die Erziehung unserer Kinder, aber ganz genauso für unsere eigene Entwicklung. 

Brené Brown sagt, es geht darum, die eigene Geschichte nicht zu vergraben, zu schwächen oder uns von ihr definieren zu lassen. Wenn wir sie vergraben, bleiben wir immer in sie verwickelt. Stehen wir zu ihr, können wir sie irgendwann zu Ende erzählen. Und sind nicht definiert durch das, was uns widerfahren ist, sondern durch das, was wir werden wollen. 


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