Der Anzug muss passen – Das Veto-Recht im Erziehungskontext

Der Anzug muss passen – Das Veto-Recht im Erziehungskontext

„Wenn wir Kindern behilflich sind, ihre Integrität zu wahren, belohnen sie uns mit einer in hohem Maße gleichwürdigen Kooperation.“ Jesper Juul

Wenn ich in Workshops davon spreche, dass Kinder in der Schule und in der Familie ein Veto-Recht bekommen sollten, ernte ich Reaktionen zwischen leisem Zweifel und Schnappatmung. Es klingt für viele zu radikal. Es ist ja so schon alles kompliziert genug. Vielleicht wird es auf diese Weise aber auch weniger kompliziert? Möglicherweise wird es leichter, näher, authentischer – eben gleichwürdiger?

Deswegen beginne ich heute mit einer Geschichte, die zeigen soll, wie wir uns manchmal selbst das Leben schwer machen:

Ein Mann geht zum Schneider und will sich einen Anzug schneidern lassen. Dieser soll dunkelblau sein und von feinem Stoff. Der Schneider sagt: „Sie können den Anzug am Freitag abholen.“ Der Mann fragt nach: „Wollen Sie denn nicht vor der Anfertigung meine Maße nehmen?“ „Nein“, sagt der Schneider, „das ist nicht nötig“. Der Mann wundert sich, verlässt aber das Geschäft und geht nach Hause. Am Freitag geht er wie besprochen zur Schneiderei, um den fertigen Anzug abzuholen. Er nimmt ihn mit nach Hause und probiert ihn dort an. Der Anzug ist viel zu eng. Er spannt unter den Armen und der Reißverschluss der Hose lässt sich nicht schließen.

Der Mann geht zurück zum Schneider, zieht den Anzug dort an und zeigt ihm das Problem. Der Schneider entgegnet: „Das geht doch. Schauen Sie doch mal, wenn Sie ein bisschen den Bauch einziehen und die Arme ruhig halten, dann passt der Anzug.“ Der Mann beharrt darauf, dass der Anzug so für ihn nicht zu tragen ist und verlangt, dass der Schneider ihn abändert. Der Schneider ist sehr ungehalten darüber, dass der Mann so kleinlich ist und ihm nun so viel zusätzliche Arbeit aufhalst. Aber er lässt sich überreden und nimmt den Anzug entgegen, um ihn abzuändern. Bevor der Mann geht, fragt er den Schneider wieder: „Wollen Sie diesmal nicht lieber meine Maße nehmen?“ „Nein“, sagt der Schneider, „ich habe ein fantastisches Augenmaß. So ein Fehler passiert mir nicht noch einmal.“ Der Mann verlässt das Geschäft, zusehends verärgert von der Unprofessionalität des Schneiders.

Nach einigen Tagen unternimmt der Mann den zweiten Anlauf und macht sich auf den Weg zur Schneiderei, um den geänderten Anzug abzuholen. Diesmal probiert er ihn gleich im Geschäft an. Der Anzug ist nun zu groß, die Ärmel sind zu lang, die Hose schlackert um die Hüften. Der Mann sagt: „Sehen Sie, der Anzug passt wieder nicht. Der ist viel zu weit.“ Der Schneider verliert langsam die Geduld: „Sie sind aber auch empfindlich. Außerdem kann das überhaupt nicht sein. Sicher haben Sie abgenommen, seit sie das letzte Mal da waren.“ Da wird der Mann sauer: „Ich habe genau das gleiche Gewicht. Was fällt Ihnen ein? Und ich bestehe darauf, dass mir der Anzug passt, sonst werde ich dafür sorgen, dass Sie keine Kunden mehr finden.“ Da erschrickt der Schneider. Er lächelt angestrengt und versucht den Mann zu besänftigen: „Schauen Sie mal, wir binden die Hose hinten mit einer Schnur zusammen und die Ärmel schlagen wir einfach um. Sehen Sie, so passt der Anzug doch wunderbar.“ „Nein“, sagt der Mann, „nein, so werde ich den Anzug nicht tragen. Warum nehmen Sie nicht endlich meine Maße???“ Der Schneider versichert dem Mann, dass er nun nur noch letzte Korrekturen vornehmen wird: „Beim nächsten Mal wird alles zu Ihrer Zufriedenheit sein. Es ist nicht nötig, Maß zu nehmen. Sie werden sehen, das ist für mich ein Kinderspiel. Ich mache das schließlich seit Jahren so.“

Dieses Szenario wiederholt sich noch einige Male. Beide Männer werden immer wütender und ungehaltener, bestehen jedoch immer hartnäckiger auf ihrer Meinung und verstricken sich in einen Machtkampf. Beide fühlen sich unverstanden, der Schneider in seiner guten Absicht, seiner Erfahrung und seiner Bemühung, der Kunde in dem Bedürfnis, sich in seinem Anzug wohlzufühlen. Das gemeinsame Ziel der beiden, dass der Mann einen passenden Anzug bekommt, ist am Ende nicht erreicht. Beide Seiten sind frustriert, erschöpft und unglücklich.

Diese Geschichte spielt sich im übertragenen Sinne immer wieder in der familiären (und schulischen) Erziehung ab. Unsere Kinder (wie alle Menschen) haben eine individuelle Persönlichkeit. Sie haben Bedürfnisse und Grenzen. Sie haben eine Idee davon, was für eine Person sie sein und werden wollen. Sie besitzen so etwas wie einen inneren Körper – ihren Wesenskern. Nach Jesper Juul ihre Integrität. Um für diese eine passende Hülle zu erschaffen, in der sie geschützt wachsen, gedeihen und sich entwickeln kann, müssen wir die Maße von dem inneren Körper des Kindes nehmen. Und nichts weniger als die Erschaffung dieser Schutzhülle ist meiner Meinung nach unsere Aufgabe als Eltern. Um das zu leisten, müssen wir die Persönlichkeit des Kindes kennenlernen und die Fähigkeit entwickeln, ihm das zu geben, was es braucht.

Das bedeutet, dass wir unser Kind liebevoll beobachten müssen, versuchen es zu verstehen, in Kontakt mit ihm treten. Was für ein Mensch ist dieses Kind? Kinder können, je jünger sie sind, noch nicht genau sagen, was sie brauchen. Aber sie wissen oder spüren es vielmehr von Geburt an. Diese Fähigkeit wird uns als Menschen mitgegeben, zu empfinden: fühle ich mich wohl oder unwohl? Gerade jüngere Kinder kommunizieren eher durch ihr Verhalten als durch Worte. Wir müssen Übersetzungsarbeit leisten und Rückschlüsse ziehen aufgrund ihres Verhaltens, darüber was nährend und was belastend für sie ist. Was von unserem Handeln und vom Umfeld, das wir schaffen für unser Kind nützlich und passend ist und was nicht. Wir müssen wirklich zuhören, wenn das Kind (direkt oder durch sein Verhalten) mit uns spricht, die Grenzen, Gefühle und Bedürfnisse nicht bewerten. Wir müssen Abstand von dem Wunsch nehmen, dass das Kind uns ähneln muss oder Ziele verfolgen, die wir für erstrebenswert halten. Unsere Agenda loslassen und unsere Ideen davon, was ein gutes und glückliches Leben ist. Nur so sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Anzug, der die Integrität des Kindes schützt, auch wirklich passt.

Zudem müssen wir unser Handwerk lernen. Damit wir mit allem, was wir über unser Kind wissen, und mit der Absicht, die wir verfolgen (dass der Anzug passt), auch wirklich zu diesem Ergebnis kommen. Ich kann Maß nehmen, so genau ich will. Wenn ich nicht weiß, wie ich ein Schnittmuster anfertige oder eine Nähmaschine bediene, wenn ich keinen Schimmer habe, wie ich die einzelnen Stoffteile zusammenfügen muss, dann wird kein passender Anzug entstehen. Wenn wir also nicht wissen, WIE wir unserem Kind geben können, was es braucht, dann gelangen wir wahrscheinlich trotz guter Absicht nicht ans Ziel. Die Fragen auf diesem Weg sind: Was braucht ein Kind, damit der innere Anzug gut sitzt? Damit seine Integrität gewahrt ist? Damit seine Grundbedürfnisse erfüllt sind und es sich frei und gesund auf seine eigene Weise entfalten kann? Über dieses Handwerkszeug habe ich bereits viel geschrieben. Es basiert auf den vier Grundwerten von Jesper Juul: Integrität, Gleichwürdigkeit, Authentizität und Verantwortung.

Je nachdem, wie gut meine eigenen Eltern dazu in der Lage waren, mir eine passende Hülle für meinen Wesenskern zu kreieren, desto besser bin ich sicherlich in der Lage, dies für mein Kind zu tun. Denn dann hatte ich das Glück, mit dem Nähen von passenden Anzügen groß geworden zu sein. Ist dies nicht der Fall, kann es eine Menge Zeit, Kraft und Willen brauchen, dieses Handwerk zu lernen. Wie sollte ich auch intuitiv wissen, wie ich eine gute Beziehung zu meinem Kind aufbaue, wenn ich das in meiner Ursprungsfamilie nicht gelernt habe? Wenn mir niemand beigebracht hat, wie ich einen Anzug nähe, werde ich es als erwachsene Person erst einmal nicht können. Das erscheint logisch. Gleichzeitig zu dem Wissen, das ich habe, wenn ich in einer bindungs- und bedürfnisorientierten Familie aufgewachsen bin, habe ich viel eher die Kapazitäten, mich der Aufgabe zu widmen, meinem Kind einen passenden Anzug zu nähen. Denn dann passt auch mein eigener Anzug gut. Er ist bequem und ich fühle mich darin wohl. Ich bin in der Lage, auf mich selbst, meine Grenzen und Bedürfnisse zu achten. Das ist die beste Basis, um auch für die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu sorgen. Es ist nicht bequem, sein Leben lang in einem Anzug herumzulaufen, der zu groß oder zu klein ist, bei dem die Hose rutscht oder der Bund spannt. Das ist sehr anstrengend und kostet enorm viel Kraft, die uns für uns selbst und für andere Menschen fehlt.

Passt unser Anzug grundlegend, durften wir also als Kinder ein gesundes Selbstgefühl entwickeln, dann halten wir es als Erwachsene bis zu einem gewissen Maß auch aus, wenn mal jemand am Ärmel zieht, wenn der Anzug mal verrutscht, wenn er mal etwas zu eng oder zu weit wird durch Veränderung der Lebensumstände. Wir wissen, wo unsere Grenze liegt und wir wissen, wie wir unseren Anzug wieder richten können. Das nennen wir eine gute Resilienz. Also die Fähigkeit, uns als Menschen auch mit widrigen Bedingungen gut arrangieren zu können und auch aus schwierigen Zeiten einigermaßen unbeschadet hervorzugehen.

Wenn ich das Handwerkszeug nicht aus meiner Erziehung mitbekommen habe, lohnt es sich, das nachzuholen. Für mich selbst und für mein Kind. Es ist sehr befriedigend, zu wachsen, sich weiterzuentwickeln und zu betrachten, wie der innere Anzug der Kinder immer besser passt. Weil wir Maß genommen haben und unser Handwerk gelernt. Das gilt auch für unseren eigenen inneren Anzug. Denn wenn wir uns mit der Beziehung zu unseren Kindern beschäftigen, setzen wir uns immer auch mit uns selbst auseinander. Was brauchen wir, um glücklich zu sein? Was sind unsere Grenzen und Bedürfnisse? Wo ist unser Veto? Was für ein Mensch sind wir? Und was für ein Mensch wollen wir sein? Ich erinnere mich noch an die großen Glücksgefühle in meinem Leben, wenn ich lange für etwas geübt habe und dann der Moment kam, als ich es konnte: Jonglieren, einen Rock nähen, Handstand, Gitarre spielen, eine Exceltabelle anfertigen, eine Fahrradkette aufziehen…). Und zu erleben, wie sich meine eigenen Kinder gesund zu einer ureigenen Persönlichkeit entwickeln ist mit Abstand die allergrößte Freude meines Lebens. Jeder Moment der Reflexion und Übung, alle Anstrengung und jeder Schmerz hat sich mehr gelohnt als alles, was ich bisher geleistet habe.

Ein passender Anzug ist mit das Wichtigste, was wir unseren Kindern auf ihrem Lebensweg mitgeben können. Sie können ihn sich nicht allein nähen. Dieser Anzug bestimmt über ihr Grundgefühl und dient als Schutzhülle für den Wesenskern, als zweite Haut im Chaos des Lebens. Was kann wertvoller sein, als dass das Kind lernen dufte, seine eigene Integrität zu wahren? Für diesen Lernprozess braucht es einen Austausch darüber, ob der Anzug passt oder nicht. Sehr hilfreiche Instrumente auf diesem Weg sind die sieben Führungsjoker von Maike Plath: Veto, Klarheit, Tempo, Verantwortung, Störgefühl, Freispiel, Blick von außen. Diese Führungsjoker können wir in unserer Familie einführen, um uns das Feedback der Kinder zu unserer elterlichen Führung einzuholen. Also darüber ob der Anzug passt, oder ob wir nachbessern müssen. Und der erste und wichtigste Führungsjoker ist das oben erwähnte Veto. Darum soll es heute vor allen Dingen gehen.

Veto zu machen bedeutet, dass der Anzug so schlecht sitzt, dass es für mich nicht mehr akzeptabel ist. Das Veto-Recht heißt übersetzt, das Kind kann jederzeit entscheiden, etwas nicht zu tun, wenn es über seine Grenze geht, also seine Integrität verletzt. Oft erlebe ich bei Eltern und Erziehungspersonen bei Einführung des Veto-Rechts die Angst, dass das Kind dann gar nicht mehr kooperiert und nur noch seinen Kopf durchsetzen will. Das ist verständlich und gleichzeitig unbegründet. Sowohl Kinder als auch Erwachsene müssen im Alltag ständig abwägen, ob sie ihre Integrität und ihre persönlichen Grenzen achten oder kooperieren und etwas für die Gemeinschaft tun. Kinder sind soziale Wesen und haben das natürliche Bedürfnis, wertvoll für andere zu sein und zu kooperieren. Kooperieren sie jedoch zu viel, ist das eine schmerzhafte Erfahrung, auf die ein Symptom folgt (Aggression, unkooperatives Verhalten, Depression). Die ersten beiden Symptome sind ein Kampf um die eigene Identität. Bei depressiven Symptomen haben die Kinder die Hoffnung tendenziell aufgegeben, ihre eigene Integrität schützen zu dürfen.

Wir sehen daran, dass Kinder ohnehin vom Veto Gebrauch machen. Sie tun es dann auf destruktive Weise, indem sie sich unangemessen verhalten. Nach außen gegen die Mitmenschen, oder nach innen gegen sich selbst. Mit dem Veto-Recht geben wir ihnen eine konstruktive Form an die Hand, ihre Grenzen aufzuzeigen und mit uns in Beziehung zu treten. Veto zu machen bedeutet, dass das Kind die persönliche Verantwortung für sich übernimmt und seine Integrität schützt.

Durch das Veto-Recht wird eine gleichwürdige Beziehung überhaupt erst möglich. In der autoritären Erziehung, deren Haltungen noch weit in unsere Gesellschaft hineinreichen und unbewusst in unseren Köpfen weiterwirken, wurden die Bedürfnisse von Kindern in der Gesellschaft nicht mitgedacht. Niemand kam auf die Idee als Schneider*in die Maße zu nehmen, damit ein passender Anzug angefertigt werden kann. Es wurde sich einfach an den Maßen von Erwachsenen orientiert. Im Großen und Ganzen richtet sich die Welt noch immer stark an den Bedürfnissen von Erwachsenen aus. Von Kindern wird oft erwartet, dass sie sich an Bedingungen anpassen, die nicht für sie gemacht sind. Tun sie es nicht, haben wir in Familie und Schule viele Machtinstrumente, derer wir uns bedienen können. Wir als Erwachsene haben die vollumfängliche Macht. Die Kinder sind abhängig von uns. Sie können bei Unzufriedenheit nicht den*die Schneider*in wechseln. Durch Druck, Manipulation, Liebesentzug oder Androhung von Strafen können wir ihnen fast alles abverlangen. Das ist ein Teufelskreis, der zu immer mehr Konflikten und Machtkämpfen führt, zu Frust, schlechten Beziehungen und seelischen Belastungen.

Glücklicherweise setzen sich immer mehr Menschen kritisch mit der elterlichen Macht und einem Ausgleich der Machtverhältnisse auseinander. Der Begriff Adultismus findet verstärkt Eingang in Debatten, wenn er auch im Vergleich zu den Begriffen Sexismus und Rassismus noch nicht gängig ist. Der Begriff leitet sich vom englischen Begriff „adult“ für „Erwachsen“ ab und benennt das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen. Erwachsene gehen oft davon aus, „dass sie allein aufgrund ihres Alters intelligenter, kompetenter, schlicht besser sind als Kinder und Jugendliche und sich daher über deren Meinungen und Ansichten hinwegsetzen“ dürfen (Ritz, 2013, S.1). Kindern werden dabei aufgrund ihres Alters bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, zum Beispiel „egoistisch, vielleicht trotzig, aber auch niedlich, rücksichtslos, unreif oder nicht vertrauenswürdig zu sein. Erwachsene werden demgegenüber als schlau, erfahren, weitsichtig, verantwortungsvoll und vertrauenswürdig gedacht und wahrgenommen.“ (Deutsches Rotes Kreuz 2016, S. 8).

Durch die Einführung des Veto-Rechts werden Kinder wieder als kompetente und vertrauenswürdige Subjekte wahrgenommen und nicht als Objekte, die wir verbessern und über die wir deswegen bestimmen müssen. Das Recht auf Schutz der eigenen Grenzen für alle Menschen sollte kein gewagtes und radikales Unterfangen sein, sondern ein völlig selbstverständliches Grundrecht. Das Veto-Recht geben wir den Kindern als Zeichen, dass wir die Macht, die wir haben, nicht ausnutzen werden, als Instrument, diese Macht auszugleichen. Dieser Akt schafft Vertrauen und nur durch diesen Machtausgleich ist Gleichwürdigkeit möglich.

Ein Veto ist nicht das Ende der Kommunikation, im Gegenteil. Es kann als Basis dienen, um ins Gespräch zu kommen. Wir können die andere Person in seiner*ihrer Grenze wahrnehmen. Und: wir können uns selbst in unseren Grenzen wahrnehmen und sichtbar machen. Denn auch wir selbst haben das Recht auf Veto. Die Anwendung der Führungsjoker ist als Aufforderung und Einladung zu verstehen, dass alle in der Familie auf ihre Grenzen und ihre Integrität achten. Es ist die Vereinbarung über das zu sprechen, was ohnehin da ist: was stört uns, was ist uns zu viel, wo sind wir überfordert, was können wir überhaupt nicht aushalten? Es geht darum, dem unguten Gefühl einen Namen zu geben, damit es nicht wie ein Gespenst als Störgefühl im Raum herumgeistert und unsere Beziehung stört. Macht das Kind Veto, können wir im besten Fall gemeinsam die Ursache herausfinden und schauen, wie Kooperation wieder möglich ist. Wir können auf unser aller Bedürfnisse blicken: was ist uns wichtig und was brauchen wir?

Nicht immer gibt es (sofort) eine Lösung, die für alle gut ist. Wir können über unsere Bedürfnisse streiten. Konflikte gehören zum normalen Familienleben dazu. Die Annahme, dass wir uns die meiste Zeit einig sein müssen, ist eine romantische Vorstellung. Und die Haltung, dass Kinder gehorchen müssen ein autoritäres gewaltvolles Konstrukt. Die entscheidende Frage ist: wie gehe ich als Elternteil mit dem Veto meines Kindes um? Wie gehe ich mit Konflikten im Allgemeinen um? Will ich das Kind gegen seinen Willen zwingen, es manipulieren, abwerten dafür, dass es etwas anderes will als ich? In Richtig und Falsch Denken verfallen? Druck ausüben, kontrollieren, bestrafen, schimpfen? Verliere ich die Kontrolle, fühle mich hilflos und verliere den Boden unter den Füßen? Fühle ich mich angegriffen? Oder will ich vielmehr in Beziehung treten, den anderen im Anderssein sehen und annehmen? Das Bedürfnis des anderen ernstnehmen? Von mir und meinen Bedürfnissen sprechen? Mich selbst mit meinen Grenzen ernstnehmen, laut und deutlich sagen „Das passt mir nicht“, alle damit verbundenen Gefühle zulassen, die Verantwortung dafür übernehmen? Win-win Möglichkeiten finden, Kompromisse schließen? Aushalten, dass sich nicht immer alles auf eine Weise lösen lässt, mit der alle zufrieden sind? Vertrauen haben, in mich, in das Kind, in unsere Beziehung?

Vertrauen zu haben und als Elternteil als liebevolle und klare Führungsperson sichtbar zu sein, erfordert eine gute Selbstwahrnehmung, Selbstkenntnis, Selbstwert und ein hohes Maß an Integrität. Diese Fähigkeiten immer weiter zu entwickeln lohnt sich. Ich weiß, dass gleichwürdiges Zusammenleben im Gegensatz zu autoritärer Erziehung auf lange Sicht unsere ganze Gesellschaft verändern kann. Wenn wir lernen und lehren, mit anderen Menschen nicht in Machtkämpfe zu verfallen, bei denen es ums Gewinnen und Verlieren geht, sondern uns wirklich als Menschen zu begegnen, profitieren wir am Ende alle davon. Wenn wir uns immer besser kennenlernen, wird das Zusammenleben einfacher, mehr von Rücksicht, Verständnis und Vertrauen geprägt und für alle erfüllender. Denn wenn der Anzug gut passt, fühlt sich das Kind wohl. Dies führt zu einem hohen Maße an gleichwürdiger Kooperation. Mein Sohn hat großes Vertrauen, dass ich meine Macht nicht ausnutze und wenn er etwas tun soll, was er gar nicht tun will fragt er oft: „Muss das sein?“ Wenn ich dann sage: „Ja, das muss sein.“ Dann weiß er, dass es gerade keine andere Möglichkeit gibt und sagt in der Regel: „Na gut!“

Wir können uns in der Familie viel mehr als Team begreifen und die Führungsjoker als gemeinsame Sprache darüber nutzen, ob der Anzug, den wir schneidern passt. Und wie unser eigener Anzug gerade sitzt. Wenn ich als Schneiderin nicht darauf achte, dass ich bequem gekleidet bin und mich jahrelang mit einem schlechtsitzenden Anzug herumquäle, dann habe ich keine Geduld mit einem schlecht sitzenden Anzug meines Kindes und wenig Verständnis für seine Ansprüche. Es geht um die Verantwortung für mich selbst, für das Kind und für die Familie als Ganzes. Ein Austausch darüber, wie und ob wir dieser Verantwortung gerecht werden, kann uns ein gutes Feedback sein, ob sich alle in der Familie noch wohlfühlen mit meiner Führung.

Denn die Verantwortung, dass dem Kind der Anzug passt, liegt ganz bei uns. Oft handeln wir nach unseren (erwachsenen) Normen und Vorstellungen und machen dann das Kind verantwortlich, wenn etwas nicht gut funktioniert. Wenn es uns also darauf aufmerksam macht, dass der Anzug zwickt. Wir verfallen entweder in eine Opferhaltung, „ich gebe mir so eine Mühe, ich weiß nicht, was ich noch machen soll?“ oder in Schuldzuweisungen, das Kind ist „undankbar, faul, anstrengend und bequem“. Wir werden sauer und ungeduldig und ziehen ständig am Anzug des Kindes herum, versuchen dem Kind einzureden, dass er sehr wohl passt, bzw. dass es selbst Schuld ist, wenn er nicht passt. Wir sind genervt, weil wir uns so eine Mühe geben und so unglaublich viel Arbeit reingesteckt haben. Das ist ein ziemlich absurdes Verhalten, wie wir anhand der Geschichte mit dem Schneider sehen. Einen Anzug zu nähen, ohne vorher Maße des Körpers zu nehmen, auf die Idee käme niemand. Aber mit der Persönlichkeit des Kindes gehen wir oft so um. Wir tun das, was für uns hilfreich wäre, was wir denken, was für alle Menschen hilfreich wäre, das, was wir schon immer getan haben. Doch so wie wir unterschiedliche Körpermaße haben, haben wir auch unterschiedliche Persönlichkeiten. So einfach ist die Sache.

Ein anschauliches Beispiel ist die elterliche Begleitung der Hausaufgaben: Wir wollen, dass das Kind in der Schule gut zurechtkommt und es dabei bestmöglich unterstützen. Nach unseren Maßstäben. Dann kann es passieren, dass wir unser Kind nach der Schule mehrfach erinnern, dass es noch Hausaufgaben machen muss, wir versuchen es zu motivieren, sind irgendwann genervt, sauer, haben Sorge, versuchen es dann vielleicht mit Belohnung oder Strafandrohung. Mit dem Ergebnis, dass wir jeden Tag einen riesigen Streit über das Thema Hausaufgaben haben. Bei manchen Familien läuft das seit Monaten oder sogar Jahren auf diese Weise ab. Es wäre sinnvoller, innezuhalten, den Blick von außen auf die Situation zu werfen und Maß zu nehmen, um herauszufinden, was das Kind als Unterstützung für die Hausaufgaben wirklich will und braucht. Wie ist die Idee des Kindes vom inneren Anzug? Was braucht es, damit der Anzug passt? Es ist nicht möglich zu kooperieren, wenn der Anzug zwickt, kratzt, spannt oder rutscht.

Kinder sind die besten Expert*innen für sich selbst. Nur sie können wissen, ob ihnen der Anzug passt. Wir KÖNNEN als Führung nicht wissen, was die anderen brauchen. Aber wir können beobachten, ausprobieren, auswerten, nachfragen und dankbar sein für ein ehrliches Feedback. Die Kinder können Rückmeldung geben darüber, wie ihnen der Anzug, den wir ihnen gemacht haben, gefällt und ob er passt. Ob sie sich darin wohlfühlen. Ob sie ihn so tragen können und wollen. Wir müssen diese Rückmeldung nicht persönlich nehmen, wir können die Maße des Kindes nicht einfach aus dem Kopf wissen. Das ist unrealistisch. Wir sind alle verschieden und müssen uns gegenseitig kennenlernen. Wenn wir (direkt oder indirekt durch unangemessenes Verhalten) die Rückmeldung bekommen, dass der Anzug nicht passt, dann müssen wir genauer Maß nehmen. Uns als Erwachsene Gedanken darüber machen, wie wir unser Handeln und unsere Strategie ändern können. Wir müssen auch flexibel sein und nacharbeiten, wenn das Kind (innerlich) ab- oder zunimmt, sich also verändert, das gehört zum Leben.

Ich kann mir regelmäßig Rückmeldung einholen darüber, wie der Anzug passt. Im Beispiel der Hausaufgaben kann ich fragen: Ist das, was ich tue für dich hilfreich, oder soll ich etwas ändern? Was brauchst du, was magst du gar nicht, was ist nicht hilfreich? Vielleicht will das Kind eine Weile versuchen, die Erledigung der Hausaufgaben selbständig hinzubekommen. Oder es möchte sich nach der Schule erst einmal ausruhen und danach erinnert werden. Vielleicht müssen wir das Tempo rausnehmen, nicht so viel Druck erzeugen. Oder das Kind braucht ein Gespräch darüber, warum ihm die Hausaufgaben so schwerfallen und es die Lust verloren hat. Vielleicht habe ich eine ganz tolle Idee, wie es besser lernen könnte. Vielleicht macht mein Kind aber auch Freispiel und findet seine ganz eigene Art und Weise und braucht von mir keine Ratschläge. Die Frage „Ist meine Hilfe hilfreich?“ öffnet die Türen für eine wirkliche Begegnung.

Je besser wir unser Kind kennen (und das Kind uns), desto hilfreicher und rücksichtsvoller können wir im Leben des Kindes sein. Und das Kind in unserem. Klarheit über unsere inneren Prozesse und Motivationen, unsere Gefühle und Bedürfnisse einzufordern heißt: Ich will, dass du mehr von mir weißt oder ich will mehr von dir wissen. Wenn wir dieses Teilhabenlassen an den inneren Prozessen in der Familie trainieren, wird diese transparente Form des Umgangs und der Kommunikation miteinander immer selbstverständlicher.

Wir stellen dann alles zur Verfügung, damit der passende innere Anzug des Kindes entstehen kann. Was so viel bedeutet wie: Wir schaffen eine Beziehung zum Kind und eine Umgebung, in der es sich zu seiner eigenen besten Version entwickeln kann. Und die „beste“ Version des Kindes hat nichts mit Leistung zu tun und sie muss nicht mit dem Bild übereinstimmen, das wir von seiner besten Version haben. Es geht darum, dass das Kind selbst entscheidet, wie es leben möchte und wie es glücklich ist. Und dass es auf diesem Lebensweg eine schützende Hülle hat, damit es sich abgrenzen kann, sich nicht verkleiden muss und sich nirgends hineinpressen, wo es nicht hineinpasst. Damit sein Wesen nicht deformiert wird, sondern sich entfalten kann.

Ich glaube daran, dass es in der Familie möglich ist, die Bedürfnisse aller in einer guten Balance zu halten. Das ist nicht immer einfach. Das erfordert Übung in guter Selbstwahrnehmung, persönlicher und authentischer Kommunikation, Klarheit, Perspektivwechsel, Mitgefühl, Warmherzigkeit – in Beziehungsgestaltung. Ich denke, nicht alle Anzüge können und müssen zu jeder Zeit perfekt sitzen. Hauptsache, es sind unsere eigenen. Es reicht, wenn sie hinreichend gut passen. So wie wir auch keine perfekten Eltern sein müssen. Es genügt, wenn wir hinreichend gut Eltern sind. Lasst uns mit Freude und Stolz unsere Anzüge tragen, in allen Farben und Formen, ob Plüsch oder hautenges Nylon, oversized oder aus Bärenfell. Wenn mein Anzug bequem ist und zu mir passt, dann kann ich auch andere Menschen dazu ermutigen, ihren passenden Anzug zu tragen.

Und jetzt noch eine Empfehlung für die Weihnachtszeit: Seid NICHT brav und artig (was nämlich nichts anderes heißt, als geht über eure Grenzen), sondern achtet auf euch und auf die anderen. Lasst uns Weihnachten so feiern, wie es für uns gut PASST.


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