Dem Schmerz ins Gesicht schauen – Wie das Getriggert sein durch unsere Kinder zu einem großen Geschenk werden kann

Dem Schmerz ins Gesicht schauen – Wie das Getriggert sein durch unsere Kinder zu einem großen Geschenk werden kann


Für mich fühlt sich diese Zeit sehr düster an. Jetzt leben wir schon beinahe zwei Jahre mit der Corona Pandemie. Irgendwie dachten wir doch alle, das geht schneller wieder vorbei. Ich fühle mich wie auf Pausentaste, gelähmt, ausgebremst. Unsere Kinder leben mit Masken, Corona Tests, Quarantäne. Mit Stress, Angst und Unsicherheit. Und mit Einsamkeit und Ausgeschlossen sein. Als ich gesehen habe, dass die Berliner Bibliotheken jetzt 2G sind, die Buchläden aber nach wie vor 3G, habe ich mich wirklich geärgert. Nicht falsch verstehen. Ich freue mich, dass Buchläden in Berlin als Geschäft des täglichen Bedarfs gesehen werden. Ich frage mich nur, ob sich die Politik auch darüber Gedanken gemacht hat, dass nicht alle Familien Bücher für ihre Kinder anschaffen können? Und dass die Bibliothek für viele ein Ort des täglichen Bedarfs war? Was ist mit Kindern ungeimpfter Eltern, die noch nicht allein in die Bibliothek gehen können und wo das Geld fehlt, die Bücher zu kaufen? 
 
Ich habe auf Spiegel Online einen Artikel gelesen, dass die Suizidversuch-Rate bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie um das 3-4-fache gestiegen ist. Die Studie ist noch nicht ganz verifiziert, aber die Tendenz stimmt. Wir lesen überall, dass Depressionen und Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen während Corona massiv angestiegen sind. Das bricht mir das Herz. Wir Eltern müssen jetzt doppelt für unsere Kinder da sein, obwohl wir selbst (manche mehr, manche weniger) belastet sind in der Krise. Wir sind häufiger überfordert und gelangen schneller an unsere Schmerz- und Triggerpunkte. Es sind harte Zeiten! Und das sollten wir erst einmal anerkennen. 
 
Gabor Maté schreibt in seinem Buch „Wenn der Körper nein sagt“: 
 
„Der erste Schritt auf dem Weg zur Gesundheit besteht darin, uns von dem sogenannten positiven Denken zu lösen. (…) Woran ich wirklich glaube, ist die Macht des Denkens. Sobald wir das Wort Denken mit dem Adjektiv positiv genau bestimmen, schließen wir all die Bereiche der Realität aus, die für uns „negativ“ sind. (…) Echtes positives Denken beginnt damit, unsere gesamte Realität einzubeziehen. Es steht unter dem Zeichen der Zuversicht, dass wir auf uns selbst bauen können, der ganzen Wahrheit ins Gesicht sehen, um welche ganze Wahrheit es sich auch immer handelt.“
 
In meiner Familie wurden Probleme immer unter den Teppich gekehrt. Meine Großeltern haben im selben Haus gewohnt wie wir. Wenn wir zusammen gegessen haben und ich etwas Konflikthaftes angesprochen habe, oder sauer wegen irgendetwas war, hat meine Oma gesagt: „Schau doch mal die Vögel da draußen. Wie schön!“ Das fand ich schon damals unglaublich absurd. Und natürlich wurde ich noch wütender. Durch Wegschauen sind Probleme noch nie kleiner geworden. Ein Lieblingszitat meines Großvaters war: „In diesem Haus wird nicht gestritten. Gott sei mit dir.“ Und das Ganze mit polternder Stimme, die keinen Widerspruch duldet.
 
Maté schreibt weiter:
„… zwanghafter Optimismus (ist) eine der Methoden (…), unsere Angst anzubinden, damit wir ihr nicht gegenübertreten müssen. Diese Form des positiven Denkens ist der Bewältigungsmechanismus des verletzen Kindes. Der Erwachsene, der diese Verletzung noch in sich trägt, ohne sich dessen bewusst zu sein, macht diese noch bestehende Abwehrhaltung des Kindes zu einem Lebensgrundsatz.“
 
Deswegen geht es heute für mich darum, wie wir dem Schmerz ins Gesicht sehen können. Das fängt immer damit an, ihn nicht mehr zu leugnen, sondern ihn zuzulassen. Das ist für mich eines der größten Dinge, die wir für unsere Kinder tun können. Ihnen zeigen und vorleben, dass alles sein darf, was ist – bei meinem Kind und bei mir selbst. 
 
Als Eltern wollen wir oft, dass es unserem Kind immer gut geht. Wir beschwichtigen, reden auf das Kind ein, wenn es traurig oder wütend ist. Das größte Geschenk, dass wir ihm machen können, ist zu sagen: „Es ist wirklich unfassbar schwierig/traurig… für dich gerade. Zum Verzweifeln.“ Und: „Ich bin da!“
 
Und genauso auch mit uns selbst umgehen. Wenn es Konflikte in der Familie gibt, wenn wir unfassbar getriggert sind von dem Verhalten unseres Kindes, wenn wir uns so verhalten, wie wir es gar nicht wollen, wenn wir schon die schlimmsten Gedanken und Impulse unserem Kind gegenüber haben, für die wir uns schämen, die wir kaum jemandem anvertrauen wollen – genau dann sollten wir uns in den Arm nehmen und sagen: „Es ist eine Katastrophe! Ich weiß nicht mehr weiter.“
 
Mit dieser Anerkennung können wir überhaupt erst beginnen, uns unsere massiven negativen Gefühle anzuschauen und Mitgefühl für uns selbst zu entwickeln. Anstatt in Scham und Verdrängung festzustecken. Und vor allen Dingen ist das der erste Schritt, um Verantwortung dafür zu übernehmen. Denn für unsere Gefühle sind zu 100% wir selbst verantwortlich, nicht unsere Kinder.   
 
Diesen Schritt zu gehen finde ich in dieser krisenhaften Zeit doppelt so wichtig, weil wir mit Ängsten, Schmerz und Verlust (von Menschen, Arbeit, Freiheit) konfrontiert sind. Wir sind viel anfälliger dafür, getriggert zu sein, weil wir insgesamt labiler sind. Selbst wenn es uns nicht immer bewusst ist, Krisen wie eine Pandemie sprechen uns in unseren tiefsten Ängsten an, bedeuten massiven Stress und rauben uns Kräfte, mit denen wir sonst in der Familie vielleicht noch einiges abfangen und in uns selbst regulieren konnten. 
 
Im besten Fall betrachten wir diesen Schritt nicht als zusätzliche Arbeit, die wir nun leisten müssen, sondern als Schritt ins Loslassen, in die Freiheit und zu uns selbst. Als Geschenk. Denn in unserem Bewältigungsmechanismus zu verharren ist unglaublich anstrengend und entfernt uns von uns selbst. Sei es unser Helfersyndrom, Perfektionsstreben, Verdrängung, Harmoniestreben, Rollenspiel, Projektion, Kontrollstreben, Angriff oder Narzissmus. Es sind alles Schutzstrategien, um Schmerz zu vermeiden. Als Kind waren diese Mechanismen für uns überlebensnotwendig. Heute sind es „dumme Freunde“, die bleiben, obwohl sie nicht mehr gut für uns sind. 
 
Um dem Schmerz auf die Spur zu kommen, müssen wir nur betrachten, in welchen Situationen mit unserem Kind (oder unserer*m Partner*in, Freund*in, Kolleg*in usw.) wir starke negative Gefühle entwickeln. Dann sind wir getriggert. Dann hat unser Gefühl wenig mit der aktuellen Situation zu tun. Der Moment erinnert uns an etwas, das wir kennen und noch nicht verarbeitet haben. An einen alten Schmerz, eine alte Wut, den/die wir nicht fühlen wollen. Dann sollten wir immer in der Vergangenheit suchen und nicht im Heute.
 
Geht es mir so, wenn mein Kind wütend wird, wenn es mir nicht im Haushalt hilft, seine Hausaufgaben nicht macht, mich beleidigt, oder immer mehr von mir fordert? Ich kann damit beginnen, mir diese Situationen ins Gedächtnis zu rufen und ihnen nachzugehen. Im zweiten Schritt schaffe ich es dann vielleicht, IN dem Moment die Pausentaste zu drücken, durchzuatmen und mir zu sagen: „Ah, jetzt häng ich in was Altem fest, das hat nichts mit meinem Kind zu tun.“
 
Bei mir ist das der Fall, wenn meine 12-jährige Tochter in einem herablassenden Ton mit mir spricht: „Das hab ich dir doch schon dreimal gesagt!“ Das verletzt mich so sehr, dass ich am liebsten sofort den Kontakt abbrechen will. Letzte Woche stand sie vor mir und war stinksauer, weil ich ihre Handyfreigaben nicht so einrichten wollte, wie sie es wollte. Sie hat mich (gefühlte) 2 Minuten so dermaßen angeschrien, wie ich es noch nie erlebt habe. Und das Verrückte war: Es hat mich gar nicht verletzt! Ich habe mich selbst dabei beobachtet und war überrascht. Ich dachte nur: „Wow, sie ist echt sauer. So krass hab ich sie noch nie schreien sehen. Es ist ein Orkan. Mmh, ich warte jetzt erstmal ab, bis sie sich beruhigt hat.“ Da wurde mir deutlich, dass laut angeschrien werden für mich zwar natürlich nicht schön ist, mich aber an nichts Altes erinnert. Herablassung dagegen schon! 
 
Und so konnte ich als erwachsene Person einordnen: 1. Sie ist in der Pubertät und ihre Gefühle schwanken wirklich zum Teil extrem. Ihre Stimmung kippt manchmal von der einen auf die andere Sekunde. Sicher ziemlich anstrengend auch für sie. 2. Ich muss das nicht persönlich nehmen. 3. Es scheint ihr sehr wichtig zu sein, dass sie die Musik hören kann, die sie will und keine Beschränkung zu haben, sobald in einem Song das Wort „Fuck“ auftaucht. „Alle anderen dürfen das auch.“ Ok, kann ich mich später mal mit beschäftigen und vielleicht mit der Mutter einer Freundin sprechen, wie sie das sieht und macht. Vielleicht kann ich meine Meinung auch nochmal überdenken (vielleicht bleibe ich aber auch beim Nein). 
 
Warum lösen manche Verhaltensweisen und Eigenschaften unserer Kinder starke negative Gefühle in uns aus und treiben uns fast in den Wahnsinn und andere nicht? 
 
Um der Antwort auf die Spur zu kommen, können wir unsere Emotionen mentalisieren. Das bedeutet nach dem Psychologen Werner Eberwein: „…auf achtsame Weise die eigene, innere, psychische Verfassung wahrzunehmen, (…) sowie die Fähigkeit, (darüber) reflektierend nachzudenken.“
 
Somit stellen wir etwas zwischen uns und die Emotion (nämlich unser Bewusstsein), wir schaffen Abstand. Erst mit diesem Abstand sind wir in der Lage, auch unser impulsives Handeln zu verändern. Wir sind dann unserem Gefühlszustand nicht mehr ausgeliefert, sondern wir wissen: Meine starke emotionale Reaktion hat Ursachen und diese Ursachen kann ich erforschen. Sie liegen nicht im Jetzt, nicht im Verhalten meines Kindes und nicht in unserer Beziehung. 
 
Folgende Fragen können wir uns stellen, wenn wir getriggert sind:

  • Werden Gefühle in mir wach, die ich aus anderen Kontexten (als Kind) kenne?
  • Löst das Verhalten meines Kindes Erinnerungen aus der Vergangenheit aus?
  • Was habe ich als Kind erlebt? Kenne ich das Thema?  

Wenn wir von der Wut unseres Kindes getriggert sind (was übrigens gefühlte 30% der Themen meiner Workshops und Beratungen ausmacht), dann können wir innehalten und reflektieren. Die Fragen könnten beispielsweise sein: 

  • Wie wurde in meiner Familie mit Aggressionen umgegangen? 
  • Welche Rolle hat Wut gespielt? 
  • War ein Elternteil sehr aggressiv oder sogar gewalttätig? Assoziiere ich mit Wut also Gefahr und Ausgeliefertsein? 
  • Oder mussten Aggressionen unterdrückt werden, weil niemand Wut zeigen durfte? Haben alle ihre schlechten Gefühle weggelächelt und verdrängt? 
  • Was ist oder wäre passiert, wenn ich wütend wurde oder geworden wäre?

Dieser Schritt führt dazu, dass wir die Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen. Ich finde es in dem Zusammenhang auch hilfreich zu verstehen, warum Dinge, die in der Kindheit passiert sind, so starke Gefühle bei uns im Heute auslösen, wenn wir sie nicht verarbeitet haben. Wenn wir den Zusammenhang kennen und die Verantwortung übernehmen, versuchen wir mehr, uns zu kontrollieren. Wenn nicht, übertragen wir möglicherweise dem Kind die Verantwortung und sagen Dinge wie: „Nie machst du…“ „Immer muss ich….“ „Wegen dir fühle ich mich so oder so….“. Wir schreien oder motzen unser Kind an. Wir verstricken uns in Machtkämpfe und Streitereien, manchmal verlieren wir unser Kind (fast). Wir haben ein schlechtes Gewissen, rechtfertigen unser Verhalten dann doch, weil das Kind sich ja auch so schwierig verhält und Schuldzuweisungen für uns leichter auszuhalten sind als unsere Scham. Es ist manchmal ein heilloses Durcheinander in unserem Verstand und in unserem Gefühl. Es ist auf jeden Fall für uns dann meist so, dass wir überwältigt sind von Gedanken und Gefühlen, die wir nicht sortiert und reguliert bekommen.
 
Deshalb möchte ich kurz erklären, was im Gehirn passiert, wenn wir getriggert sind (wenn wir durch das Verhalten unserer Kinder (oder anderer Personen) an negative Kindheitserfahrungen erinnert werden, die uns überfordert haben und die nicht verarbeitet wurden). Unsere Gefühle und unser Verhalten sind dann nicht mehr der aktuellen Situation angemessen. Ich finde es hilfreich, zu verstehen, WAS WIE und WARUM in uns vorgeht:
 
Ich versuche das zu verdeutlichen am Beispiel von Umgang mit Aggression: Wenn mein Vater mich in meiner Kindheit z.B. regelmäßig angebrüllt (und geschlagen) hat. Und meine Mutter mich nicht geschützt, nicht eingegriffen hat, weggeschaut, oder es vielleicht sogar gerechtfertigt hat. Dann habe ich als Kind in permanenter Angst gelebt, habe mich ausgeliefert und gedemütigt gefühlt, unverstanden und allein. Es schmerzt, so behandelt zu werden, gerade von den Menschen, von denen ich Liebe und Geborgenheit brauche. Ich weiß als Kind, dass das meine Eltern sind und ich auf sie angewiesen bin. Also verdränge ich einen Teil meiner Gefühle, weil ich sie nicht ertragen könnte. Ich kann sie auch nicht verarbeiten, wenn niemand da ist, mit dem ich sprechen kann und der mich versteht (manchmal kann das eine Großmutter oder eine Tante sein. Dann ist das Trauma weitaus kleiner)! 
 
Diese (verdrängten) Erfahrungen von Gefahr sind, wenn sie nicht verarbeitet wurden, in meinem Gehirn festgeschrieben. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen und funktioniert folgendermaßen: Die sensorischen Informationen (wie hören, sehen usw. …) treffen beim Thalamus ein, werden dort verarbeitet und dann zur Amygdala weitergeleitet, die ihre emotionale Bedeutung einschätzt. Wenn es eine Wahrnehmung von Bedrohung gibt, sendet die Amygdala an den Hypothalamus die Anweisung, Stresshormone auszuschütten, damit der Körper sich darauf vorbereiten kann, sich gegen die Gefahr zu verteidigen. Neurowissenschaftler nennen das den „niederen Weg“. Dieser Weg ist wichtig, damit ich bei Gefahr unmittelbar reagieren kann. Wenn mir also ein Raubtier gegenübersteht, renne ich los, ohne vorher darüber nachzudenken. Wenn mein Kind auf die Straße vor ein Auto rennen will, halte ich es fest. Der „hohe Weg“ braucht einige Mikrosekunden länger, wäre für eine Gefahrensituation also ungünstig, weil es auf jede Mikrosekunde ankommt. Er verläuft über den Hippocampus zum Präfontalkortex, wo eine bewusste und detaillierte Deutung stattfindet. 
 
Was passiert also im Beispiel des aggressiven Vaters: Meine Amygdala sendet auch als erwachsene Person permanent Alarm und Stress. Ich bin allein und nicht in Sicherheit! Ich lebe in ständiger Gefahr und es werden Stresshormone ausgeschüttet. Der Dauerstress als erwachsene Person bei einem aggressiven Elternteil in der Kindheit (oder anderen für das Kind schädlichen Bedingungen) ist massiv. Und führt wiederrum zu Verhaltensweisen als Elternteil, die nicht bewusst getroffen werden, sondern eben diesem Trigger entspringen. Wenn mein Kind dann z.B. ein aggressives Verhalten zeigt, wird in meiner Amygdala Alarm ausgelöst. Denn Aggression bedeutet Gefahr und Ausgeliefertsein. Die Erinnerung des Kindes, das dem cholerischen Vater ausgeliefert war, ist in der Amygdala gespeichert. Auch wenn ich heute weiß, dass ich das nicht mehr bin. Das Wissen hilft mir nicht aus dem Gefühlszustand, weil auf dem niederen Weg Gefahr gemeldet wird. Die Reaktion entspringt dem unbewusstem, nicht dem bewussten Teil des Gehirns. Das schlägt sich sogar in körperlichen Reaktionen nieder: der Puls erhöht sich, der Körper spannt sich an usw. Das logische Denken ist in dem Moment ausgeschaltet. Unser Notfallprogramm geht an. Ich kann meine Reaktion nicht steuern, weil der Zugriff auf das denkende Gehirn in dem Moment nicht möglich ist. Wenn ein Reiz auf mich trifft, der mich daran erinnert, dann springt die emotionale Warnung im Gehirn direkt an.

Was kann ich also tun, wenn ich getriggert bin? 
 
Ich kann die Pausentaste drücken, mich wahrnehmen und sagen: „AHA. Das passiert gerade. Meine Amygdala sendet Alarm. Es droht aber gar keine Gefahr. Ich werde mich darum kümmern. Ich werde üben, meine Reaktion nach innen zu reflektieren und zu heilen und nach außen zu kontrollieren und zu verändern. Ich werde mit der Taschenlampe meine inneren dunklem Ecken beleuchten und mir ALLES ansehen.“
 
Es kann auch eine spannende Entdeckungsreise sein, welchen Themen ich dabei auf die Spur komme. Ich lerne mich selbst besser kennen und kann alle meine Teile integrieren. Das führt zu mehr Lebendigkeit und Authentizität und natürlich zur Verbesserung meiner engsten Beziehungen. 
 
Warum triggert es mich also so, wenn meine Tochter herablassend mit mir spricht? Ich hatte dazu vor Jahren eine Beratung, in der mich die Beraterin fragte: „Kennst du das irgendwoher?“ Und ich bin sofort in Tränen ausgebrochen und habe gesagt: „Ja, meine Mutter hat oft so mit mir gesprochen.“ Wenn meine Tochter so mit mir spricht, werde ich innerlich 7 oder 8 Jahre alt. Diese Erkenntnis, die so schlicht ist, hat mir die Augen geöffnet. Ich konnte mit meiner Tochter darüber sprechen, warum mich das so verletzt und dass es MEIN Problem ist und nicht ihre Schuld. Ich konnte die Verantwortung komplett zu mir nehmen. Und wenn ich das tue (auch heute noch), dann geht die Wut sehr schnell weg und ich werde traurig darüber, wie herabsetzend als Kind mit mir umgegangen wurde. Wie allein ich mich oft gefühlt habe und unverstanden. Ich habe auch heute noch immer wieder Angst, „auf den Deckel zu kriegen“, oder habe das Gefühl, dass mich sowieso niemand wirklich versteht. 
 
Nach dieser Erkenntnis konnte ich anfangen, mich diesem verletzten Anteil zuzuwenden. Durch die Trennung zwischen den beiden Anteilen, kann ich mich aus meinem Erwachsenen-Ich heraus um mein verletztes Kindheits-Ich kümmern. Am Anfang empfinde ich das vielleicht nur minimal, habe eine Ahnung von der Trennung. Ich schaffe es, rechtzeitig die Pausentaste zu drücken und in mich zu gehen und die AHA-Erkenntnis darüber zu haben, was in meinem Gehirn vor sich geht. Je geübter ich bin, weil ich es mir immer öfter klar mache und mich tröste, desto besser werde ich darin.  
 
Es geht also darum, auf einer Zeitleiste den Legostein in die richtige Position zu schieben: Wie alt bin ich gerade? Wann habe ich das Gefühl zum ersten Mal erlebt?
 
Der Ton meiner Tochter verletzt mich immer noch, aber nicht mehr so stark. Und ich weiß dann, was ich tun kann. Ich ziehe mich zurück, spreche mit mir selbst, ordne mein Gefühl ein und gebe mir (bzw. meinem 7-jährigen Ich-Anteil) Trost und Mitgefühl. Und ich kann meiner Tochter in dem Moment sagen: „Du weißt, ich bin da empfindlich.“ Ohne, dass sie Schuld ist oder die Verantwortung trägt. Aber sie spürt ja mein Gefühl und kann es so besser zuordnen. Relativ schnell finde ich aus dem Gefühl mittlerweile wieder heraus. Und meine Tochter spricht nicht mehr so oft so mit mir und meistens entschuldigt sie sich hinterher. Es ist keine so große Sache mehr. 
 
Wie kann ich das unterscheiden, ob ein Gefühl im Jetzt verortet ist oder ob es sich um etwas Vergangenes handelt?
 
In dem Buch „Zeit für Gefühle“ haben Diana und Michael Richardson dafür Erkennungs-Merkmale zusammengefasst. In dem Buch geht es um Partnerschaft. Die Merkmale lassen sich aber auf die Eltern-Kind-Beziehung übertragen. Die beiden trennen zwischen Emotionen und Gefühlen: Im normalen Sprachgebrauch verwenden wir die Begriffe synonym, sie haben aber eine unterschiedliche Bedeutung. Eine Emotion hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Ein Gefühl bezieht sich auf die Gegenwart.
 
Merkmale für Emotionen:

  • Das Gefühl, vom anderen abgetrennt zu sein, die andere Person scheint weit weg zu sein
  • Der anderen Person die Schuld geben für mein Gefühl
  • Ich ziehe mich zurück, verschließe mich
  • Angespanntheit im Körper, Gefühl von Taubheit und/oder Schmerz, Erschöpfung
  • Das Gefühl alleingelassen, einsam und abgelehnt zu sein
  • Selbstgerecht sein, Recht haben wollen und wollen, dass die andere Person es einsieht
  • Mich falsch verstanden fühlen und dass das, was ich tue für selbstverständlich gehalten wird
  • Negative Gedanken drehen sich im Kreis
  • Themen und Muster wiederholen sich
  • Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein (mich als Opfer fühlen)
  • Der Gefühlszustand hat mich im Griff
  • Wollen, dass die andere Person sich ändert
  • Eigene Reaktionen und Gefühle selbst nicht verstehen und schwer steuern können
  • Mich auf etwas Vergangenes beziehen

Ein Gefühl ist ursprünglicher. Wir alle haben eine angeborene Fähigkeit, zu fühlen. Dieser Vorgang ist unmittelbar und der Wahrnehmung ähnlich. Wir fühlen von Anfang an, ob wir etwas mögen oder nicht, ohne darüber nachdenken zu müssen. Wir fühlen Hunger, Wärme, Kälte, Schmerz, Lust, Verlassenheit, Geborgenheit, Zufriedenheit usw., schon als Neugeborene. Diese Gefühle sind bei allen Menschen sehr ähnlich. Wir mögen keinen Hunger oder Schmerz und wir mögen Geborgenheit oder Zufriedenheit. Wie unterschiedlich wir sonst als Menschen auch sein mögen, das verbindet uns. 

Emotionen sind bedingt durch mentale Vorgänge (Gedanken, Erwartungen, Meinungen, Einstellungen, Vorstellungen, Wünsche, Absichten). Sie fühlen sich extremer an, als ein Gefühl. Es gibt sogar deutlich wahrnehmbare physische Veränderung von Muskulatur, Herzschlag, Atmung usw., die mit Messungen neurophysiologischer Parameter nachweisbar sind. Denkvorgänge können falsch sein oder Täuschungen unterliegen. Dann sind die durch sie ausgelösten Emotionen ebenfalls falsch, d.h. dem eigentlichen Sachverhalt nicht angemessen. Unsere Fähigkeit zu fühlen, unterscheidet kaum, ob wir etwas tatsächlich erleben oder uns nur mental vorstellen. 
 
Darauf beruht die verheerende Wirkung von unrealistischen Gedanken bei etwa Ängsten, Zwängen und Depressionen. Darin liegt aber auch die Möglichkeit verborgen, ein erwünschtes Verhalten mental zu trainieren. Und dies müssen wir zum Glück nicht allein machen. Wir können uns therapeutische Hilfe suchen, um uns auf diesem Weg begleiten zu lassen.
 
Emotionen basieren auf Gefühlen, die verdrängt und nicht ausgedrückt wurden. Deshalb ist es so existentiell wichtig, dass unsere Kinder ihre Gefühle fühlen und zeigen dürfen. Was für Gefühle auch immer sie haben und in welcher Intensität auch immer. Wir müssen ihnen dabei helfen, sich wieder zu regulieren. Dazu müssen sie die Gefühle ausdrücken und wir müssen sie einordnen und spiegeln. Das gibt wahren Trost und Halt. Wenn wir das romantische Bild haben, dass unsere Kinder nicht traurig oder wütend sein dürfen, dann laufen wir Gefahr, dass wir ihnen ihre Gefühle ausreden oder sie ablenken. Wir sollten immer daran denken, dass die Begleitung und Spiegelung der Gefühle der Kinder durch uns dafür sorgen wird, dass unsere Kinder als Erwachsene weniger getriggert sein werden, dass sie einen stabilen Selbstwert haben, dass sie echte Nähe zu anderen herstellen können und dass sie all das auch wieder an ihre Kinder weitergeben können. Was für eine Gesellschaft könnten wir in 100 Jahren haben, wenn wir alle HEUTE anfangen würden, so zu leben? Wenn all unsere Gefühle am RICHTIGEN Ort zum Ausdruck kommen, dann sähe unsere Welt anders aus. Bewusster, friedlicher. Dieser Gedanke gibt mir unglaublichen Halt, wenn ich mit meinem eigenen großen Schmerz konfrontiert bin.

In dem Film „Wisdom of trauma“ sagt Gabor Maté: 
„Die Götter haben uns geschaffen, damit wir in die Wahrheit hineinleiden müssen. Unsere Aufgabe als menschliche Wesen ist es, aus unserem Leiden zu lernen und daran zu wachsen.“
 
Und so hart das klingt, so bereichernd und wahrhaftig ist es. Gefühlter Schmerz ist nie so schlimm wie verdrängter Schmerz. Weil wir beim verdrängten Schmerz einen großen Teil unseres Selbst verdrängen. Unter der traumatisierten Person gibt es das gesunde Individuum, das in diesem Leben noch keinen Ausdruck gefunden hat. Es geht darum, immer mehr zu fühlen, wie es sich als Kind angefühlt hat, mir zu helfen, mich zu erweitern, damit es Raum für all diese Emotionen gibt und dabei die volle Tragweite der Gefühle zuzulassen.
 
Und neulich hat mein Sohn zu mir gesagt: „Danke, Mama, dass du das, was du in deiner Kindheit erlebt hast, nicht an uns weitergibst.“
 
Das hat mich vollkommen umgehauen, dass er mit seinen sieben Jahren schon weiß, wie oft das der Fall ist und wir sehr er meinen Kampf zu schätzen weiß, alles daran zu setzen, es nicht zu tun!


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