Was soll aus meinem Kind nur werden?
Vorletzte Woche hat mich eine der grausamsten Nachrichten erreicht, die ich je gelesen habe: ein neunjähriger Junge in Frankreich wurde von seinen erwachsenen Geschwistern totgeschlagen, ermutigt von der eigenen Mutter – weil er seine Hausaufgaben nicht machen wollte.
Wenn wir uns diese Familie vorstellen, dann erkennen wir ein Gewaltpotential, das kaum fassbar ist und dann können wir erahnen, dass dieser Junge in seinem Leben sicherlich wegen der unterschiedlichsten Themen Bestrafungen und Schläge über sich ergehen lassen musste. In diesem Maße eskaliert ist es aber im Bereich Schule und Hausaufgaben.
Es ist ein Thema, das in vielen Familien für unglaublichen Druck sorgt. Selbstverständlich ist das kaum vergleichbar mit dieser Tat, aber ich möchte für den Themenbereich sensibilisieren, weil ich glaube, dass der schulische Leistungsdruck heute die Ursache für viel Leid und Beziehungsstress innerhalb von Familien ist.
Vor allen Dingen aus Familien, in denen die Kinder in die 5. oder 6. Klasse gehen und einen guten Notendurchschnitt erfüllen müssen, um das Gymnasium besuchen zu können, höre ich in letzter Zeit von vielen Eltern, wie sie sich selbst und ihre Kinder wahnsinnig unter Druck setzen. Oft bleibt nicht mal mehr Zeit für die geliebten Hobbies. Der gesamte Alltag wird auf Schule und Noten hin ausgerichtet. Diese Eltern wollen sicher das Beste für ihr Kind. Sie möchten, dass es einen guten Schulabschluss macht, einen passenden Beruf findet, Erfolg hat, alles aus sich und seinem Leben herausholt und sie wollen sicher auch, dass ihr Kind glücklich wird. Dass es später nicht bereut, nicht mehr gelernt zu haben, kein Abitur oder kein besseres Abitur gemacht zu haben, dass es nicht das Gefühl hat, im falschen Beruf festzustecken, ohne gute Aussichten, diesen zu wechseln. Es ist die Angst vor der verpassten Chance und ein daraus folgendes Unglück der Kinder bis an ihr Lebensende.
In einem meiner Workshops habe ich eine Mutter kennengelernt, die sehr um die Zukunft ihrer Tochter besorgt ist. Diese ist 19 Jahre alt und im Findungsprozess, ob und was sie studieren möchte. Die Sorge der Mutter war, dass ihre Tochter die falsche Entscheidung trifft, dass sie etwas studiert, was ihr dann doch nicht liegt, oder etwas, womit sie danach nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten kann. Sie wollte, dass ihre Tochter „etwas Ordentliches“ lernt und hatte große Angst, dass sie sonst kostbare Jahre vergeudet. Ich habe der Mutter von meinem Lebensweg erzählt, dass ich mein Theaterwissenschaftsstudium nach sieben Semestern unterbrochen habe, um Schauspiel zu studieren, dass ich danach Hartz IV bekommen habe und als Kellnerin gearbeitet. Genau das sei ihre Angst, sagte sie. Aber mein Leben geht ja noch weiter. Ich konnte ihr aus der Perspektive einer 41-jährigen Frau berichten. Ich habe Theater gespielt und mich dabei sehr bereichert gefühlt und viele wichtige Erfahrungen gesammelt. Ich habe die Schauspielerei aufgegeben und mit meinem Erfahrungsschatz einen Verein gegründet, bei dem heute 25 Menschen arbeiten. Ich mache genau das, was mich glücklich macht: ich leite den Verein und mache Theaterprojekte mit Jugendlichen. Und es ist nie zu spät, mit etwas Neuem zu beginnen. So wie ich dieses Jahr neben der Arbeit bei ACT mit Familienbande noch einmal den Schritt in etwas Neues gewagt habe.
Kein Moment meines Lebens war vergeudet. Ohne alle meine Fehler und Erfahrungen wäre ich heute nicht der Mensch, der ich bin, mit dem, was ich beruflich mache. Und so, habe ich der Mutter im Workshop gesagt, muss auch ihre Tochter ihre eigenen Erfahrungen machen, die guten und die schlechten und sie muss als Mutter versuchen loszulassen und ihrer Tochter zu vertrauen. Meiner Meinung nach ist das die große Aufgabe und Herausforderung der Eltern, sich von dieser Kinder-Zukunfts-Angst freizumachen, beziehungsweise mit dieser Angst umzugehen und sie nicht an die eigenen Kinder weiterzugeben. Denn das nehme ich als eine Form der psychischen Gewalt wahr.
Meine Tochter geht jetzt in die 4. Klasse. In den ersten drei Schuljahren hat sie keine Noten bekommen. Mit Schuljahresbeginn ist plötzlich alles anders: jetzt gibt es nicht nur Noten; sie schreibt ständig benotete Tests, manchmal drei in einer Woche. Sie ist sehr ehrgeizig, ohne dass wir ihr wegen guter Noten Druck machen. Letzten Freitag sollte sie einen Sachkunde Test schreiben. Dafür musste sie diverse Fakten auswendig lernen (Daten rund um den Mauerbau und die Wiedervereinigung, Berliner Sehenswürdigkeiten, die Berliner Bezirke, Seen und Kanäle). Völlig ohne Sinnzusammenhang. Die ganze Woche stand meine Tochter enorm unter Druck. Am Donnerstagabend ist sie weinend zusammengesunken, hat Panik bekommen und gesagt, dass sie sich das niemals alles merken kann. Dass sie ja will, aber dass sie so viel auf einmal in ihrem Alter einfach nicht im Kopf behalten kann. Ich sitze da also als Mutter mit meiner neunjährigen Tochter und kann es nicht fassen, was das Schulsystem mit meinem Kind macht. Würden Forscher eine Versuchsanordnung machen und Bedingungen bestimmen, unter denen der Mensch NICHT gut lernen kann, dann wären diese erfüllt: keine Zusammenhänge, zu viel Stoff auf einmal, keine intrinsische Motivation, Druck, Konkurrenz, Bewertung.
Ich schaue mir die Situation von oben an und frage meine Tochter: „Was wäre das Schlimmste, das morgen passieren kann? Dass du gar nichts mehr weißt?“ Sie nickt. Ich sage ihr: „Weißt du was? Dann wird nichts Schlimmes passieren – gar nichts. Es wird nichts an deinem Leben, an deinem Glück und deiner Zukunft ändern – gar nichts!“ Dann habe ich jeden einzelnen Lernzettel in die Hand genommen und meiner Tochter gesagt: „Komm, wir schauen jetzt einfach mal, was du schon weißt und vielleicht reicht das ja.“ Ich habe dabei zusehen können, wie sie sich nach und nach entspannt. Sie wusste ziemlich viel. Und ich habe beschlossen: „Das reicht aus. Du musst wirklich nicht alles wissen. Es ist jetzt wichtiger, dass du schlafen gehst und dich ausruhst.“
Die Kritik am deutschen Schulsystem ist groß. Im Grunde ist allen klar, dass es so nicht weitergehen kann. Und trotzdem geht es immer so weiter. Warum kann Wissen nicht fächerübergreifend in größere Zusammenhänge gerückt werden? Warum kann Lernen nicht durch Projektarbeit stattfinden, in der man sich Wissen dann aneignet, wenn man es braucht, um mit seinem Projekt weiterzukommen? Warum kann lernen nicht Spaß machen? Warum geht es in der Schule um Konkurrenz und nicht um Teamgeist? Wollen wir lauter auswendig lernende Einzelkämpfer*innen heranziehen? Was soll dieser Notendruck bringen und vor allen Dingen – wo soll das alles noch hinführen?
Ich möchte alle Eltern ermutigen, sich nicht mitreißen zu lassen von dem Strudel des Notendrucks. Ich finde, Kinder haben ein Recht auf ihr Kindsein, auf Spielen und auf Freizeit. Keine Note der Welt ist es wert, die Beziehung zu unserem Kind zu belasten. Das Leben findet jetzt statt und nicht erst, wenn wir irgendwo angekommen sind: auf dem Gymnasium, nach dem Abitur, im richtigen Studium, im perfekten Job. Wenn Kinder Selbstwert entwickeln, Selbstwirksamkeit erfahren und soziale Anerkennung bekommen, dann werden sie autonom ihren eigenen Weg gehen. Ob sie dazu gute Noten brauchen wird sich zeigen. Abitur kann auch nachgeholt werden und ein Lebensweg muss nicht linear verlaufen. Lebensläufe sind heute brüchiger, kreativer und eigensinniger als früher. Kinder sind viel mehr Gestalter*innen ihrer eigenen Biografie. Wenn sie lernen durften, wer sie sind, was sie können und wollen, selbst Entscheidungen zu treffen, mutig zu sein, quer zu denken, nicht der Norm zu entsprechen, eigensinnig zu sein, auch wenn es dafür eine schlechte Note gibt, nicht gehorsam, brav und angepasst, dann werden sie viel eher erfolgreich sein. Schauen wir uns einen Steve Jobs oder einen Albert Einstein an – sie waren beide keine angepassten, braven Schüler.
Mit Vertrauen und Gelassenheit ist die Chance, dass unsere Kinder mit Erfolg und Freude ihren Weg gehen wesentlich größer, als wenn wir Druck ausüben und Angst machen. Es ist ihr Leben. Sie selbst müssen entscheiden, was sie daraus machen möchten. Wir können sie auf ihrem Weg nur beraten, ermutigen und unterstützen. Lasst uns Vertrauen in unsere Kinder und ihren Lebensweg haben. Das ist der Nährboden auf dem sie wachsen und auf dem sie über sich selbst hinauswachsen werden.