Unsere Kinder bedingungslos lieben

Unsere Kinder bedingungslos lieben

Vor ein paar Wochen habe ich einen Artikel des Hirnforschers Gerald Hüther gelesen, der mich nicht mehr loslässt. Einerseits löst das, was er schreibt in mir einen großen Schmerz aus und andererseits bestärkt es mich auf meinem Weg, für dieses Thema einzutreten und als Mutter selbst zu wachsen.

In dem Artikel geht es um die bedingungslose Liebe zu unserem Kind.

“Es gibt ganz wenige Kinder auf der Welt, die das Glück hatten, um ihrer selbst willen geliebt zu werden. Und diese Kinder zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie sich nicht anstrengen müssen in der Welt, um Bedeutsamkeit zu erlangen”, sagt Hüther.

Das ist eine sehr traurige Nachricht. Und ich sehe all die angespannten Menschen, die im Erwachsenenalter diesen Verlust ausgleichen müssen, indem sie sich besonders anstrengen, etwas zu erreichen. Mich eingeschlossen.

Viele Eltern werden jetzt aufschreien und sagen, dass sie ihre Kinder NATÜRLICH bedingungslos lieben. Ich denke dennoch, dass es sich lohnt zu überprüfen, ob wir es auch in schwierigen Zeiten schaffen, unsere Liebe so auszudrücken, dass sie von unserem Kind auch gefühlt wird.

Also überprüfe ich mich selbst. Was für eine Mutter bin ich? Was für eine Mutter will ich sein? Schaffe ich es, meine Kinder bedingungslos zu lieben, oder habe ich Erwartungen, Ansprüche, Vorstellungen, wie sie zu sein haben? Und was heißt das: Bedingungslose Liebe? Ich mache mich auf die Suche.

Wenn ich meine Kinder betrachte, dann gibt es natürlich Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ich mehr mag und welche, die ich weniger mag. Weil es damit in manchen Situationen für mich anstrengend wird oder ich mich eingeschränkt fühle. Bedingungslose Liebe kann nicht heißen, dass ich alles toll finden muss an meinen Kindern, dass ich keine Rückmeldung darüber gebe, wenn meine Grenzen überschritten sind. Für mich gibt es aber Indizien, WIE ich auf Verhalten reagiere, das mich bei meinen Kindern herausfordert, die mir zeigen, dass es der Liebe keinen Abbruch tut.

Ich frage mich folgende Dinge:

1. Bewerte ich das Verhalten oder die Eigenschaften meiner Kinder? Finde ich diese schlecht / böse und meine besser / gut?
2. Gibt es für mich ein Richtig und ein Falsch und muss ich meine Kinder zu MEINEM Richtig hin erziehen?
3. Kann ich die Gefühle und die Wünsche meiner Kinder annehmen (was nicht heißt, dass sie alles bekommen, was sie wollen)?
4. Kann ich die Verantwortung für mich selbst übernehmen, wenn ich erkenne, dass mein Kind in manchen Punkten ganz anders ist als ich und mir das vielleicht Schmerz bereitet?
5. Geht es mir gerade darum, in welchem Licht ich durch das Verhalten meines Kindes dastehe, oder will ich wirklich das Beste für mein Kind?
6. Kann ich akzeptieren, dass mein Kind ein anderes Bild von seinem besten Selbst hat, als ich das habe und dass das beste Selbst meines Kindes nur SEINE eigene Version sein kann?
7. Weiß ich, dass ich meinem Kind ein gutes Vorbild sein kann und es begleiten kann, aber dass es je älter es wird seine eigenen Entscheidungen treffen muss?
8. Kann ich für mich selbst sorgen in meiner Angst, dass mein Kind unglücklich wird, den „falschen“ Weg einschlägt, ohne diese Angst auf mein Kind abzuwälzen?
9. Spüre und weiß ich, dass mein Kind ein eigenständiges gleichwürdiges Subjekt ist und ich es nicht zum Objekt meiner Vorstellungen machen kann?

Ich versuche, es an einem konkreten Beispiel festzumachen:

Mein Sohn war jahrelang sehr wütend. Darüber habe ich im Newsletter und auf meinem Blog geschrieben. Das war für mich die größte Herausforderung in Sachen bedingungslose Liebe, weil es Momente gab, in denen ich einfach nur wollte, dass „das“ aufhört! Gleichzeitig wusste ich: Jetzt kommt es auf dich an. Wenn du ihn jetzt verlierst, ist er verloren. Also habe ich mich bemüht, meinen Sohn in seinen wütendsten Momenten wirklich zu SEHEN. Und ich habe ein sehr verzweifeltes Kind gesehen; was mich im tiefsten Herzen berührt hat. Ich musste es schaffen, den Menschen zu sehen und nicht das wütende Bündel, das still sein soll, weil ich einfach nicht mehr kann.

Gerade im Umgang mit Wut wird Kindern so viel Ablehnung entgegen gebracht. Was geht in mir als Mensch vor, wenn ich wütend bin und die Menschen, die ich am meisten liebe, wollen mich so nicht haben? Ich spalte diesen Teil ab und begrabe ihn. Ich verliere ein Stück meiner Persönlichkeit, meines Ich-Seins – meiner Integrität. Ich beginne, mich zu verstellen, um geliebt zu werden. Ich schäme mich. Mein Sohn hat seine Wut tatsächlich konstruktiv umgewandelt, als ich begonnen habe, ihn darin komplett anzunehmen und herauszufinden, was er braucht, um nicht mehr so wütend zu sein. Es ist eines der größten Geschenke in meinem Leben, das zu beobachten.

Jetzt kann ich das Leben meines Sohnes weiterdenken: Nächstes Jahr kommt er in die Schule. Meine Tochter ist in der 5. Klasse und hatte bisher noch keine Probleme in der Schule. Sie ist eine super Schülerin, lernen fällt ihr leicht, ich muss nie die Hausaufgaben kontrollieren oder fragen, ob sie schon für eine Klassenarbeit gelernt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Sohn genauso ist. Finde ich das schlimm, werde ich sie vergleichen? Vom heutigen Standpunkt aus sage ich: nein. Weil ich es gut verstehen kann, wenn ein Kind keine große Lust auf das schulische System hat, nicht gern still sitzt, nicht gern Sachen lernt, auf die es gerade keine Lust hat.

Was ist, wenn es richtig problematisch wird? Wenn mein Sohn immer zu spät in die Schule kommt, keine Hausaufgaben macht, schlechte Noten schreibt, „auffällig“ wird? Was, wenn er keinen Schulabschluss macht, keinen Beruf lernt? Ich habe das mal so weiter gedacht – einfach als Gedankenexperiment (vielleicht hab ich zu wenig zu tun, dass ich auf so Ideen komme…).

Die Frage nach bedingungsloser Liebe stellt sich nämlich nicht, wenn unsere Kinder sich so verhalten, wie es uns gefällt, wenn sie fleißig, hilfsbereit, erfolgreich und schlau sind. Diese Frage stellt sich genau dann, wenn Irritationen bei uns ausgelöst werden und wenn wir uns Sorgen machen, ob unsere Kinder auch ihren Weg im Leben finden – beruflich und privat. Wir meinen es ja nur gut! Die Frage ist aber: was ist denn IHR Weg? Die guten Absichten beruhen auf unseren Vorstellungen von Glück, Erfolg und einem erfüllten Leben. Geht es uns um Selbstermächtigung oder darum, dass unsere Kinder unsere Erwartungen erfüllen? Wie wichtig ist es mir, dass mein Kind klug ist, oder erfolgreich, kann ich mich davon frei machen? Was bedeutet klug und erfolgreich überhaupt? Es gibt eine Klugheit, die sich nicht in schulischem Erfolg niederschlägt. Und Erfolg heißt für mich, ein glückliches Leben zu führen. Bin ich enttäuscht, wenn mein Kind eine schlechte Note schreibt, mache ich Druck, bestrafe ich es? Und belohne und lobe ich es für gute Noten und ein Verhalten, das mir gefällt?

Auf diese Weise manipuliere ich mein Kind und versuche, es nach meinen Vorstellungen zu formen. Wie ich versuche, einen Hund auf ein bestimmtes Verhalten zu konditionieren. Das ist nicht bedingungslose Liebe. Das ist Liebe, die an Bedingungen geknüpft ist. Die Frage ist, ob es dann überhaupt Liebe ist? Wenn Kinder merken, dass unsere Liebe mit Bedingungen und Erwartungen verbunden ist, dann ist der Schmerz darüber so groß, dass er sogar noch im Gehirn von Erwachsenen nachgewiesen werden kann. Und diese Kinder werden ihr Leben damit verbringen, sich anzustrengen, um Erwartungen zu erfüllen und die Zuneigung zu bekommen, nach der sie sich sehnen. Sie bleiben außenorientiert und abhängig von der Bewertung anderer Menschen.

Also, sollte es in der schulischen Laufbahn meines Sohnes holprig werden, sollte es so richtig krachen, dann werde ich die Verantwortung dafür übernehmen, wenn ich mir darüber Sorgen mache. Und dann erst werde ich zu meinem Sohn gehen. Denn was mich wirklich interessiert und was ich meinen Sohn fragen werde ist: Wie geht es dir in der Schule? Wie sind die Lehrer*innen? Was interessiert dich (nicht) von dem, was du lernen sollst? Was macht dich glücklich? Wie wichtig sind dir gute Noten? Brauchst du bei irgendetwas Unterstützung? Ich kann meinem Sohn von meinen Erfahrungen berichten, wenn er sie hören will und ihm mein Wissen weitergeben über spätere Wege und Möglichkeiten, wenn er das möchte. Und dann (ich hoffe es inständig) lasse ich los und vertraue darauf, dass mein Sohn seinen Weg finden wird, der nicht geradlinig sein muss. Abschlüsse können nachgeholt werden, Berufe gewechselt, Weichen anders gestellt. Was unmöglich nachzuholen ist: Erlebt zu haben, dass ich bedingungslos geliebt wurde, dass ich keiner Anerkennung und keinem Erfolg hinterherlaufen muss, als Ersatz für elterliche Liebe.

Für Gerald Hüther steht fest: „Viele Kinder haben das Gefühl, dass ihre Eltern sie mehr lieben würden, wenn ihre Schulnoten besser wären. Oder wenn sie immer artig und hilfsbereit wären, nie widersprechen oder in Wut ausbrechen würden. Um glücklich zu sein, muss ein Kind spüren, dass es um seiner selbst willen geliebt wird. Ist das nicht der Fall, verändert sich das ganze Wesen des Kindes.“

Wir können uns nur immer wieder selbst überprüfen:

Bin ich enttäuscht, wenn mein Kind „versagt“? Bin ich stolz, wenn es „Erfolge“ hat? Stolz und Enttäuschung sind Gefühle, bei denen es immer um uns geht und nicht um das Kind. Wir beziehen das Verhalten des Kindes auf uns und unseren Wert. Stolz ist nach Wikipedia „das Gefühl einer großen Zufriedenheit mit sich selbst oder anderen (…), die Freude, die der Gewissheit entspringt, etwas Besonderes, Anerkennenswertes oder Zukunftsträchtiges geleistet zu haben.“ Hier definieren wir für das Kind, was anerkennenswert ist. Das Verhalten des Kindes wird sich daran ausrichten und nicht an dem, was es selbst für wichtig hält. Es ist vielleicht auf Dinge stolz, denen wir gar keine Bedeutung zumessen. Bedingungslose Liebe heißt, mich mitfreuen zu können am Stolz und Glück meines Kindes. Denn auf sich selbst stolz zu sein, ist etwas sehr Schönes.

Und wenn mein Kind den Abfall nie rausbringt und mir nicht bei der Wäsche hilft, dann kann ich ganz enttäuscht sein, oder ich komme heraus aus der Opferhaltung und werde echt sauer, weil ich den ganzen Kram nicht alleine machen will. Dann habe ich meine Bedürfnisse noch nicht klar genug ausgedrückt und muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass sich die Dinge ändern. Vielleicht finde ich auf dem Weg auch heraus, warum mein Kind nicht im Haushalt hilft. Es ist auch ein Unterschied, ob ich mein Kind lobe und belohne, wenn es mithilft, oder ob ich mich bedanke und meine Freude über die Arbeitserleichterung zeige.

Das klingt nach Wortklauberei. Was ist jetzt der Unterschied zwischen loben und dankbar sein und zwischen enttäuscht und sauer oder entmutigt sein? Für mich ein ganz grundlegender in meiner inneren Haltung. Dankbarkeit, Wut und Entmutigung sind meine eigenen Gefühle und haben nur mit mir zu tun. Und ich kann mich an ihnen freuen oder mich um sie kümmern und sagen, was ich brauche. Enttäuschung hat mit einer Projektion auf das Gegenüber zu tun. Und mit Lob versuche ich, das erwünschte Verhalten beim anderen zu verstärken. Bei beidem zeige ich mich nicht selbst, sondern versuche, den anderen zu verändern. Das Kind wird sich nicht so geliebt fühlen, wie es ist, sondern nur aufgrund von bestimmten Verhaltensweisen.

Wenn ein Kind sich unabhängig von seinem Verhalten geliebt fühlt – bedingungslos – dann kann es sich auch selbst lieben und annehmen, wie es ist. Es kann den eigenen Wert als Mensch spüren, auch wenn ihm mal etwas misslingt. Und aus diesem Gefühl heraus kann es auch andere Menschen besser annehmen in ihrem Sein, mit ihnen mitfühlen und ihnen helfen. Es ist wie ein Samenkorn, das gegossen und gepflegt wird und so zum besten eigenen Selbst heranwachsen kann – welch ein Wunder, das zu beobachten! Ich bin sehr dankbar, dabei sein zu dürfen, wie meine Kinder ihre ganz eigene Persönlichkeit entwickeln – und wer weiß, vielleicht wird mein Sohn ja ein „Musterschüler“.


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