Perspektivwechsel – Warum mein Kind nach der Kita nicht kooperieren kann

Perspektivwechsel – Warum mein Kind nach der Kita nicht kooperieren kann

Ihr kennt sicher alle dieses berühmte Bild, das je nachdem wie wir draufschauen zwei verschiedene Motive zeigt: Entweder eine alte Frau mit Warze auf der Nase oder eine junge Frau, die nach hinten blickt. Man nennt diese Art der optischen Täuschung auch Vexierbild. Die visuelle Information ist nicht eindeutig. Das Bild lässt zwei Sichtweisen zu. Einige Menschen haben Probleme, das jeweils andere Motiv zu erkennen. Die einen sehen nur die alte Frau, die anderen sehen nur die junge Frau.

Mich erinnert diese einseitige Sichtweise an unsere Gesellschaft, in der die Perspektive der Erwachsenen meist ziemlich eindeutig über die der Kinder gestellt wird. Es wird erwartet, dass Kinder sich permanent an die Erwachsenen-Welt anpassen. Ihnen wird dabei sehr viel abverlangt. Haben sie ihre Grenze erreicht und boykottieren die Anpassung an unsere Norm, geraten wir in Stress und werden oft wütend. Dabei vergessen wir, wie erstaunlich häufig unsere Kinder am Tag kooperieren.

Es fängt am Morgen an: Sie müssen früh aufstehen und um pünktlich in Kita und Schule zu kommen sollen sie sich zügig anziehen. Bei uns zu Hause sieht das dann so aus: Ich lege meinem Sohn (vier Jahre) die Klamotten raus und sage ihm, er soll sich bitte anziehen und dann zum Frühstück kommen. Nach fünf Minuten komme ich ins Kinderzimmer und wenn ich Glück habe hat er die Pyjamahose aus- und schon einen Socken angezogen. Er spielt fröhlich mit seinen Dinos. Ich erinnere ihn also an seinen Auftrag: „Zieh dich weiter an, ich will in zwanzig Minuten los, deine Schwester muss um 8 Uhr in der Schule sein.“ Nach fünf weiteren Minuten hat er womöglich seine zweite Socke angezogen usw. (Erstaunlich, dass wir trotzdem noch nie zu spät kamen)!

Wie oft prallen bei uns Erwachsenen und unseren Kindern zwei Welten aufeinander? Kinder wollen die Dinge in Ruhe machen und sie nicht „durchziehen“, auf dem Weg der Erledigung sehen sie tausend andere spannende Dinge, denen sie sich widmen möchten. Gleichzeitig haben wir es eilig und denken, sich anzuziehen dauert doch nur zwei Minuten, wenn man es einfach schnell erledigt. Kinder wollen Nähe, wenn wir Rückzug brauchen, sie wollen oft lauter spielen, als wir es vertragen können und Kindern ist Ordnung weitaus weniger wichtig als uns Erwachsenen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wie oft habe ich mich schon geärgert, weil ich gerade die Kommode im Flur aufgeräumt habe und schon wieder Dinge dort abgelegt wurden, weil mein Sohn „trödelt“ und ich pünktlich kommen will, weil ich zum 100. Mal gesagt habe, er soll nach der Kita die Jacke an den Kleiderhaken hängen und sie nicht auf den Boden werfen und schon wieder liegt sie dort?

Jetzt habe ich mir mal die Mühe gemacht und versucht mir vorzustellen, was so ein Kita-Tag für meinen Sohn an Kooperations-Stress bedeutet. Nach dem frühen Aufstehen und dem (mehr oder weniger) zügigen Anziehen kommt er also um 8.15 Uhr in der Kita an. Dort verbringt er acht Stunden mit sehr vielen ganz unterschiedlichen Erwachsenen und Kindern auf engem Raum. Nicht mit allen diesen Menschen kommt er gleich gut klar, manche mag er vielleicht überhaupt nicht. In der Kita ist es oft sehr laut und es gibt wenig bis gar keine Rückzugs-Möglichkeiten. Der Tag ist fast komplett durchstrukturiert und folgt einem bestimmten Ablauf, bei dem Flexibilität selten möglich ist. Die Kinder müssen sich an sehr viele Regeln halten, sich anpassen, ihre eigene Stimmung und Verfassung oft zurückstellen, denn sonst funktioniert der Tagesablauf nicht. Das alles ist sicher ziemlich anstrengend für so einen kleinen Menschen. Er musste den ganzen Tag über eine Menge kooperieren.

Wenn ich mir das so vorstelle, dann verstehe ich plötzlich, warum mein Sohn es nicht schafft, zu Hause dann auch noch seine Jacke an den Kleiderhaken zu hängen. Er kann einfach nicht mehr. (Ich muss zugeben, dass ich selbst meinen Mantel nach einem langen Arbeitstag meistens einfach schnell auf der Truhe im Flur ablege, weil ich keine Lust habe, ihn in den Schrank zu hängen). Und statt dass ich mich jeden Tag aufs Neue über meinen Sohn und die rumliegende Jacke aufrege, kann ich mich auch entscheiden, diese schnell selbst an den Haken zu hängen. Ich glaube, wir müssen dabei keine Angst davor haben, dass wir auf lange Sicht dann gleich als Dienstmädchen unserer Kinder enden.

So gibt es diverse Situationen am Tag, in denen ich diesen Perspektivwechsel vollziehen kann: bei einem Kleinkind, das sich sträubt bei 22 Grad Raumtemperatur auf dem Boden liegend in seinen Winteranzug gesteckt zu werden, bei meiner Tochter, die es hasst, wenn ich mitten im Film sage, dass sie jetzt den Fernseher ausmachen soll, weil die vereinbarte Stunde rum ist, bei kleinen Kindern, die im Restaurant nicht zwei Stunden still am Tisch sitzen wollen und Erwachsenen-Gesprächen lauschen usw.

Regelmäßig meine Erwachsenen-Perspektive zu verlassen, um die der Kinder einzunehmen, mir das regelrecht zu verordnen, nimmt bei mir viel Druck, Anspruch und Wut aus der Beziehung zu meinen Kindern. Ich sehe sie mit ganz anderen Augen und fühle mich ihnen um einiges näher. Manchmal sehe ich meinem Sohn zu, muss schmunzeln und denke: In welcher aufregenden Dino-Welt bist du grade, während ich will, dass du deine langweiligen Socken anziehst?

Es geht hier um Akzeptanz. Um die Akzeptanz, dass Kinder eine andere Perspektive haben als wir Erwachsenen. Das bedeutet nicht, dass wir uns immer nach unseren Kindern richten und dass wir nicht unsere Grenzen und Bedürfnisse deutlich machen dürfen. Unsere Annahme des kindlichen Verhaltens wird aber wachsen. Wir werden dadurch nicht mehr so schnell wütend, wenn unsere Kinder sich nicht wie kleine Erwachsene benehmen. Und dann können wir die Dinge, die uns wirklich wichtig sind mit einer größeren Klarheit und Ruhe kommunizieren, so dass die Chance, dass unsere Kinder in diesen Momenten mit uns kooperieren viel größer ist.

Es geht darum zu verstehen, dass wir in verschiedenen Welten leben, dass wir als Erwachsene von unseren Kindern sehr viel erwarten, zu sehen, wie unglaublich häufig unsere Kinder kooperieren, dranzubleiben an den Themen, die uns wirklich wichtig sind, in dem Wissen, dass es normal ist, dass wir einiges 1000 Mal sagen müssen, bis es funktioniert und einige Dinge so anzunehmen, wie sie sind. Das entspannt uns. Wie oft ärgern wir uns darüber, dass unsere Kinder sind, wie sie sind? Das kostet viel Kraft. Ein Perspektivwechsel bringt eine Menge Leichtigkeit in den Familien-Alltag.

Manchmal bin ich regelrecht schockiert darüber, wie wenig in unserer Gesellschaft die Perspektive der Kinder zählt. Ich war einmal bei einer Freundin zu Besuch, unsere Kinder haben im Garten zusammen gespielt. Mein Sohn hat sich sehr über etwas geärgert, wurde wütend und weinte laut. Es war 16 Uhr am Nachmittag – nicht früher Morgen, nicht später Abend, keine Mittagsruhe. Da kam die Nachbarin aus dem Nebenhaus an den Zaun und meinte, ich solle meinen Sohn bitte ins Haus tragen zum Schreien. Das sei ihr zu laut.

Mein Sohn wird leider häufiger wütend und schreit – auch bei uns zu Hause. Jetzt erlebe ich zusätzlich zu dem Stress der Wutausbrüche auch noch den Stress, dass es zu laut sein könnte für unsere Nachbarn. Nur was soll ich machen, wenn mein Sohn tobt? Je ruhiger ich selbst innerlich bin, desto schneller beruhigt er sich auch wieder. Je mehr ich mich selbst stresse, dass es zu laut ist, desto angespannter ist die Situation und desto weniger kann mein Sohn sich beruhigen. Das ist eine ähnliche Situation, wie wenn wir wollen, dass unser Baby einschläft, weil wir noch mit unserer Freundin verabredet sind oder um 20.15 Uhr ein guter Film läuft. Dann sitzen wir am Bett und denken: „Jetzt schlaf schon!“ Das sind dann die Abende, an denen es am längsten dauert, weil unser Kind unseren inneren Stress spürt und spiegelt.

Kinder sollen sich in der Gesellschaft ständig an Rahmenbedingungen anpassen, für die sie nicht gemacht sind. Rücksicht bedeutet für die meisten, dass die Kinder Rücksicht auf die Bedürfnisse der Erwachsenen nehmen sollen. Auch an dieser Stelle lohnt es sich, die Perspektive zu wechseln. Wie würde es denn aussehen, wenn wir Erwachsenen ständig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder nehmen sollten? Wir wären irgendwann ziemlich überfordert und wütend. Warum also soll Rücksichtnahme bedeuten, sich an den Bedürfnissen der Erwachsenen zu orientieren? Rücksichtname ist keine Einbahnstraße, sie muss von beiden Seiten kommen – gleichermaßen.

Ich kann also Rücksicht nehmen auf das Tempo meines Sohnes beim Anziehen und morgens früher aufstehen. Und meine Nachbarn werden die Lautstärke wohl noch etwas aushalten müssen. Ich setze alles daran, dass mein Sohn lernt, konstruktiver mit seiner Wut umzugehen. Dann wird auch wieder mehr Ruhe bei uns einkehren.

Natürlich ist es wichtig, dass Kinder lernen Rücksicht zu nehmen und mit gesellschaftlichen Konventionen umzugehen und dass jeder Mensch Grenzen hat, die respektiert werden sollen. Doch das funktioniert eben nicht über Strenge und Ermahnen, sondern dadurch, dass sie uns als Vorbild erleben. Rücksichtnahme lernt ein Kind am besten, wenn es selbst Rücksicht erfahren hat.

Und zu guter Letzt ein erhellender Perspektivwechsel meinerseits:
Ich habe mich neulich mit meiner Tochter unterhalten und mein Sohn wollte mir auch etwas erzählen. Ich habe ihm gesagt, er soll bitte kurz warten, aber er wollte unbedingt gleich reden und hat mir erklärt: „Mama, wenn ich rede, musst du immer SOFORT zuhören.“ Ich hab ihm gesagt, „nein, das mach ich nicht. Ich möchte immer erstmal zu Ende reden, ob ich mich grade mit dir unterhalte, oder mit jemand anderem.“

Er wurde wütend und hat total drauf bestanden, dass das mit ihm etwas anderes ist und er immer sofort angehört werden muss. Da hab ich ihn gefragt, warum das denn so ist. Und er hat mir ziemlich verzweifelt mitgeteilt: „Mama, weil ich doch erst vier Jahre bin und ich kann mir doch gar nicht so lange merken, was ich sagen wollte und bis ich dann dran bin, hab ich es doch vergessen.“

Verstehe! Ja, das würde mich auch ziemlich wütend machen.


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