Die Zeit heilt alle Wunder… – wo ist das freie Kind in uns?
Du kommst auf die Welt, um ihr den Kopf zu verdrehen
Du lachst über Hunde und deine eigenen Zehen
Du bleibst kaum kannst du laufen alle zwei Meter stehen
und fällst auf die Knie, um noch ein Wunder zu sehn
Am nächsten Wunder ziehen sie dich vorbei
Der der dich am Arm hält zählt bis drei
Es geht vorbei es geht vorbei
Es geht vorbei es geht vorbei
Die Zeit heilt alle Wunder
schon nach wenigen Jahren
Die Zeit heilt alle Wunder
schon nach wenigen Jahren
nur noch Narben da wo Wunder waren
(„Die Zeit heilt alle Wunder“ – Wir sind Helden / Judith Holofernes)
Nach der Transaktionsanalyse von Eric Berne ist das freie Kind der Teil von uns, der uns als Wesen ausmacht. Im Modus des freien Kindes gehen wir impulsiv unseren Bedürfnissen nach, ohne uns um Normen oder Erwartungen zu kümmern. Hier liegt die Quelle für unsere Neugierde, unsere Wünsche und unsere Kreativität. Geben wir diesem Teil Raum, sich konstruktiv zu entfalten, kann er sehr wertvoll für unser Leben sein.
Ich denke, wir sind fast alle im Alltag immer wieder getrieben von Leistungsgedanken, Erwartungen, Druck oder gehemmt durch Ängste und Zweifel. Unser freies Kind haben wir dann in einen dunklen Keller verfrachtet, damit es uns nicht blamiert, uns nicht von unseren Todos abhält und damit es nicht unsere ganzen Erwachsenen Pläne durcheinanderbringt. Wir haben ja auch wirklich genug zu tun!
Aber dann blitzen diese Momente auf, in denen ich meinen Sohn selbstvergessen spielen sehe und mich sehnsüchtig erinnere, wie das war. Momente, in denen ich merke, wie erschöpft und im Hamsterrad ich mich fühle und in denen ich mich frage, wo die Freude in meinem Leben ist. Und natürlich die Momente, in denen ich das, was ich von mir erwarte, auch auf meine Kinder übertrage und von ihnen mehr Vernunft und Disziplin erwarte, als es kindgerecht ist.
Deswegen finde ich, es ist an der Zeit, eine Reise in die Kindheit zu unternehmen und mich zu fragen:
Wo steckt das freie Kind in mir? Wer war ich als Kind? Was habe ich geliebt? Was machte mich aus? Wo habe ich es schon in mein Erwachsenenleben integriert? Und welchen Teil kann ich mir wiederholen? Wo bin ich zu angepasst und verstecke Teile von mir, weil sie vielleicht nicht der Norm entsprechen oder unerwünscht sind? Und welche Teile habe ich instrumentalisiert, weil sie mir zu Anerkennung von außen verhelfen sollen?
Als Kind war ich laut und rebellisch, mir war es egal, was die anderen denken. Ich hatte ein großes Gerechtigkeitsempfinden und war sehr mitfühlend. Ich habe schnell gespürt, wenn es anderen nicht gut geht und wollte helfen. Zwischen Menschen habe ich versucht zu vermitteln und ungesagte Dinge anzusprechen. Gerade in meiner Familie, in der nicht wirklich über innere Prozesse oder Gefühle gesprochen wurde. Ich war voller Liebe und habe mir schon im Kindergartenalter Liebeslieder für meine Familie ausgedacht und sie ihnen vorgesungen.
Ich habe schon immer Styling, Schmuck, Frisuren und Klamotten geliebt. Da konnte ich mich auch durchsetzen gegen meine Eltern und habe die schrägsten Klamotten getragen. Meine Mutter wurde von Nachbarn angesprochen, ob sie es wirklich für angemessen hält, mich in dem Alter schon so rumlaufen zu lassen. Einmal bin ich mit den roten hochhackigen Pumps meiner Oma in den Kindergarten gegangen. Meiner eher strengen Mutter war schnell klar, dass sie mich nicht dazu bewegen wird, sie auszuziehen und dass ich ansonsten gar nicht in den Kindergarten gehe.
Ich habe Madonna geliebt und Falco. Nach ihm habe ich sogar meinen Wellensittich benannt. In der Grundschule hatte ich dann eine Falco-Sonnenbrille, diese verspiegelte mit den super länglichen Gläsern, natürlich mit Brillenbändern in neonfarben. Und sogenannte Rockerbänder ums Handgelenk, dicke Lederbänder – auch in neon – mit Metalldornen drauf. Meine Sammlung an riesigen Clip-Ohrringen in allen Farben war beachtlich. Die 80er Jahre waren stylingmäßig für mich ein Fest. Es ist witzig, meine Klassenfotos aus der Grundschule anzuschauen, auf denen die Mädchen mit Blumenkleidern und geflochtenen Zöpfen stehen und ich mit einem bauchfreien Oberteil, Minirock, Kurzhaarfrisur und einem großen rosa-silbernen Ohrring. Oft hat meine Schwester mich auch gestylt und mich an verschiedenen Locations fotografiert (siehe Foto am roten Ascona meines Vaters).
Ich war insgesamt total inspiriert von den 80er Jahren. Ich habe viel Musik gehört, mir schon mit 9 Jahren erste eigene Platten gekauft (mein Debütalbum war Bad“ von Michael Jackson). Ich habe Musiksendungen im Fernsehen geschaut („Formel 1“), das ganze auf Video aufgezeichnet und danach mit dem Kassettenrekorder Lieder überspielt (was für eine Qualität!). Ich habe meine Lieblingssongs nachgesungen (rein phonetisch, weil ich noch kein Englisch konnte) und selbst ausgedachte Choreografien einstudiert. Ich habe wahnsinnig schöne und erfüllte Erinnerungen an diese Momente.
Und dann, wie das Leben so spielt, hat mich mehr und mehr die Realität des Älterwerdens eingeholt und das freie Kind hat an Raum verloren oder wurde verbogen.
So ab der 5. Klasse habe ich angefangen, mir Gedanken darüber zu machen, wie ich bei anderen ankomme. Ob ich gut bin, so wie ich bin. Ob ich zu doll bin, nicht hübsch genug, ob mit meiner Stimme etwas nicht stimmt. Die Lust am Singen hat schon in der Grundschule erste Schrammen bekommen. Meine Stimme war schon immer verhältnismäßig tief und kratzig. Fast jede erwachsene Person hat dazu einen Kommentar abgegeben: Hast du Kreide gefressen? Bist du heiser? Was ist mit deiner Stimme los? Der Höhepunkt war ein Kommentar meiner Klassenlehrerin, die meinte, ich soll beim St. Martins Lied nur die Lippen bewegen und nicht mitsingen, weil meine Stimme nicht reinpasst und ich nicht singen kann. IN DER GRUNDSCHULE!
Das hat dazu geführt, dass ich als Jugendliche mich nicht mal getraut habe, auf einen Anrufbeantworter zu sprechen oder „Happy birthday“ mitzusingen, wenn jemand Geburtstag hatte. Als ich dann auf die Schauspielschule wollte, und das war mein größter Wunsch, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen. Wegen des Vorsprechens der Monologe und vor allem auch, weil ich wusste: Ich muss dort auch vorsingen. Damals war das ein bisschen so ein Gefühl, als müsste ich nackt über die Sonnenallee laufen. Ich habe angefangen Gesangsunterricht zu nehmen und hatte das wahnsinnige Glück, eine sehr liebevolle und wertschätzende Lehrerin zu finden. Sie war ganz begeistert von meiner Stimme und hat mich sehr bestärkt darin, dass ich singen kann. Das war für mich nicht zu glauben. Ich war doch die mit der komischen Stimme, die seit über einem Jahrzehnt nicht im Einsatz war.
Mein freies Kind hat den Kampf gewonnen gegen den inneren Kritiker. Ich habe im 7. Semester mein Theaterwissenschafts-Studium vorläufig auf Eis gelegt und Schauspiel studiert. Was ich aber schnell gemerkt habe: Ich fühle mich nicht frei. Ich wollte gut sein, die Beste, mir war wichtig, was die anderen denken und sagen, ich habe mich unendlich unter Druck gesetzt. Das Gefühl hat sich nach dem Studium in der äußerst harten und hierarchischen Schauspielerinnen-Arbeitswelt noch verstärkt. Ich musste als Künstlerin erfolgreich und am besten berühmt werden, ich hatte Angst in den Proben, Druck bei den Vorsprechen. Bis ich 2007 in einem Burnout gelandet bin und kräftemäßig noch nicht einmal in der Lage war, mir ein Glas Wasser einzuschenken.
Was war passiert? Wo war das freie Kind hin? Sind die Gaben und Interessen des freien Kindes gekapert worden vom Eltern-Ich?
Das ist in der Transaktionanalyse der Teil in uns, der in der Kindheit das abspeichert, was wir von unseren Eltern hören, beobachten, lernen und übernehmen. Dort sind die Werte unserer Eltern, ihre Verbote und Regeln aufgezeichnet und die damit verbundenen Erwartungen und Forderungen an uns. Es kann eine antreibende und herabsetzende innere Stimme sein, die das wiederholt, was wir früher von unseren Eltern gehört haben. Sie gibt unserem Kindheits-Ich Futter, sich mit überhöhten Ansprüchen, Vorwürfen oder Selbstzweifeln zu quälen.
So wurden meine Gaben und meine Lust zu meiner Bürde. Das angepasste und verletzliche Kindheits-Ich hatte sich völlig übernommen, um alle Ansprüche zu erfüllen. Mein überhöhtes Ziel war unmöglich zu erreichen.
Das Muster kenne ich noch heute von mir. Und gleichzeitig mache ich den Weg meines Lebens immer mehr zu meinem eigenen und tue immer mehr die Dinge, die ich wirklich tun will, die mich heilen und die mich erfüllen. 2007 im Burnout wurde mir klar, dass ich schon immer etwas tun wollte, das die Gesellschaft verändert, die Dinge in Bewegung bringt und die Menschen berührt. In der Schauspielerei hatte ich das gesucht und nicht gefunden. In den letzten 14 Jahren bin ich Schritt für Schritt an den Punkt gelangt, an dem ich heute stehe. Ich fühle mich wirklich erfüllt und am richtigen Platz – privat und beruflich: Workshops geben, schreiben, meinen Podcast machen, eine Organisation leiten, mich weiterbilden. Und bei all dem meine Vision von menschlichem Zusammenleben einbringen.
Und ich tue Dinge und kaufe mir Dinge, die mein inneres Kind vor Freude hüpfen lassen: Ich habe mir eine ganze Palette Glitzer-Highlighter bestellt und nach etwas Recherche auch den neongrünen Nagellack aus den 80ern gefunden, den ich als Kind so geliebt habe. Der Höhepunkt meines Sommers war auf der Teamfahrt mit ACT der Moment, als ich mir auf dem Dorffest in Brandenburg beim DJ „Engel 07“ von Hubert Kah (mein Kindheits-Lieblings-Song) gewünscht und total albern getanzt habe, obwohl der Rest vom Team das Fest schon längst verlassen hatte. Und seit knapp fünf Jahren nehme ich Gitarrenunterricht und singe dazu, obwohl ich nie zum Üben komme und mich nur langsam verbessere. Ich mache das nur für mich und das erfüllt mich mit kindlicher Freude.
Das ist es, was ich immer weiter versuche in meinem Leben: Das freie Kind ins Erwachsenen-Ich zu integrieren und mir Lebensfreude und Ausgelassenheit zurückzuholen. Mich selbst unabhängiger zu machen von der Anerkennung von außen. Ich suche nach einem Weg, das freie Kind auszuleben, authentisch, gesund und verkoppelt mit dem Erwachsenen-Ich, das aufpasst auf das Kind und die Führung behält.
Ich VERSUCHE es – es ist nicht immer einfach. Sie holt mich immer wieder ein, die Stimme, die sagt, dass es nicht genügt, dass ich mehr machen muss, besser sein muss, schneller, erfolgreicher. Mein Körper gibt mir dann in regelmäßigen Abständen sehr klare Signale in Form von Schmerz. Aktuell eine starke Sehnen- und Schleimbeutelentzündung im rechten Schultergelenk. Ich habe mir in der Zeit vor den Sommerferien zu viel vorgenommen, mit zu viel Druck. Ich habe regelrecht zu viel auf meine Schultern geladen. Ich habe mich gefühlt, wie ein Zirkuspferd, das in der Manege steht und von außen angetrieben wird, besonders elegant zu springen. Bis zur völligen Verausgabung. Und immer mit der Gefahr verbunden zu stolpern. Und als Zirkuspferd hat man dann auch keine Zeit für Krankengymnastik für die Schulter. Nur es hilft ja alles nichts – Schmerz ist Schmerz.
Also habe ich Projekte gecancelt oder verschoben, Gedanken losgelassen, Glaubenssätze bearbeitet und mich gefragt, was ich wirklich brauche, damit es mir besser geht. Jetzt spüre ich wieder die große Freude an meiner Arbeit. Der Stress und der Druck nehmen ab. Ich tue, was ich tue und mein Wert und meine Freude hängen nicht so sehr vom Ergebnis oder vom Erfolg ab (da ist noch Luft nach oben, da übe ich noch ein paar Jährchen weiter). Gleichzeitig ist so auch wieder mehr Zeit für Dinge, die mir große Freude machen und die mich entspannen. Nach einem Eltern Workshop z.B. nehme ich mir nichts mehr weiter an Arbeit vor, weil ich mich danach sehr dünnhäutig fühle und mich um mich kümmern will und mich fragen: Was brauche ich? Warme Badewanne mit viel Schaum, Kerzen und dabei meine Netflix Serie weiterschauen. Herrlich! Mein freies Kind freut sich seines Lebens und baut kleine Phantasie-Gestalten aus dem Schaum.
Die Reflektion darüber, wo wir in unseren alten Mustern verhaftet sind, finde ich auch als Mutter so wichtig, weil wir sonst unbewusst diese Muster auf unsere Kinder übertragen. Dann stellen wir Erwartungen an sie, dann sollen sie möglicherweise in ihrem Leben erfüllen oder erreichen, was uns verwehrt blieb, dann ertragen wir es vielleicht schlecht und haben wenig Verständnis dafür, wenn sie „faul“ sind und Spaß haben, verspüren Neid auf ihre Unbeschwertheit und sprechen mit der maßregelnden Stimme aus unserem Eltern-Ich mit ihnen.
Ich denke, um unsere Kinder sich in ihrer Persönlichkeit frei entfalten zu lassen, müssen wir uns auch unser freies Kind zurückholen. Sonst ist die Freiheit der Kinder schwer auszuhalten und ein ständiger Trigger, eine Erinnerung an das, was uns fehlt. Vielleicht können wir das Streben nach Lustbefriedigung weniger als Egoismus abtun und vielmehr als Lebensdrang betrachten. Lustbefriedigung ist ein menschliches Grundbedürfnis und deswegen nicht einfach nur ein Luxus am Rande. Ohne dieses angeborene Bedürfnis wäre der Mensch nicht überlebensfähig. Dieser Blick kann das Verständnis dafür stärken, wenn sich das Kind das nächste Mal auf den Boden wirft, wenn es etwas nicht bekommt. Vielmehr können unsere Kinder die Inspiration für uns sein. Wir können uns bei ihnen abschauen, wie Selbstvergessenheit und im Flow-Sein aussieht.
Ich ermutige dazu, darüber nachzudenken, welche Muster uns jeweils geprägt haben. Welche Anteile mussten wir verstecken, weil sie nicht gerne gesehen wurden, weil vielleicht sogar Gefahr drohte? Welche Anteile wurden belächelt und wir tun sie selbst heute als albern und unwichtig ab? Welche Anteile unserer Persönlichkeit leben wir weiter, aber wir haben sie als Schutzstrategie so verstärkt, dass sie uns auf diese Weise nicht mehr gut tun (anderen helfen, der Clown sein, auf der Bühne stehen…)?
Ich will wieder den ganzen Raum meines eigenen Ichs ausfüllen, mit meinem ganzen Sein und allem, was dazugehört. Ohne Stress und Leistungsdruck. Wenn ich immer weiter diesem magischen Glücksgefühl des freien Kindes folge, kann ich es erkennen und versuchen, die Momente herzustellen und zu verstärken. Ich kann mir das Gefühl einprägen und es in mich aufnehmen. Ich kann mit meinem Erwachsenen-Ich die Führung behalten und gleichzeitig Kontakt zum freien Kind herstellen. Ich brauche keine Angst zu haben, dass mir dann mein Leben entgleitet. Es geht darum, das freie Kind sprechen zu lassen und es in den Alltag zu integrieren. Es geht darum, uns unsere Wunder zurückzuholen…