Die Geschlechterkluft – wie können wir lieben auf Augenhöhe? Oder – Warum ich müde bin, Männern Sexismus zu erklären

Die Geschlechterkluft – wie können wir lieben auf Augenhöhe? Oder – Warum ich müde bin, Männern Sexismus zu erklären

Seit über einem Jahr will ich zum Thema Geschlechterkluft und Auswirkungen auf die Paarbeziehung einen Text schreiben und immer wieder verschiebe ich es. Weil die Thematik so komplex ist und ich nicht wusste, wo ich anfangen soll.

Jetzt weiß ich es. Da ich immer tiefer in die Beratung von Paaren einsteige und mein neues Workshopformat „Lieben auf Augenhöhe“ über das Veto Institut in Arbeit ist, bekomme ich mehr innere Klarheit darüber, was ich sagen will. Gleichzeitig habe ich durch eigene Paartherapie, viele Auseinandersetzungen und Gespräche mit meinem Freund und viel Lesen und Selbstreflexion einiges dazu gelernt.

Diesen Text schreibe ich aus der Perspektive der weißen heterosexuellen Cis Frau, die in Beziehung mit einem weißen heterosexuellen Cis Mann ist. Die Auswirkungen unserer patriarchalen Prägungen spielen selbstverständlich auch in Partner*innenschaften eine Rolle, bei denen eine oder beide Personen trans oder nicht binär sind und in homosexuelle Beziehungen. Oft erlebe ich z.B., dass die binären Geschlechterrollen „männlich“ und „weiblich“ auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen gelebt werden. Gleichzeitig verändern sich Machtgefüge, wenn eine Person z.B. schwarz ist, von Klassismus betroffen oder eine Behinderung hat. Ich war sechs Jahre in einer Beziehung mit einem in der Türkei geborenen und sozialisierten Mann, der einen Hauptschulabschluss hatte und als Gepäckabfertiger am Flughafen gearbeitet hat. Während ich mich als weiße Frau mitten im Studium befand. Einige Konflikte, die wir hatten, kann ich heute ganz anders verstehen und reflektieren.

Nun zurück zur Geschlechterkluft und ihren Auswirkungen auf die Paarbeziehung. Mir wird immer deutlicher, auf welche Weise die strukturelle Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft in das Allerprivateste – meine Paarbeziehung – hineinwirkt:

Wenn ich z.B. sauer werde,

  • weil mir mein Freund, anstatt Mitgefühl zu schenken, Ratschläge gibt,
  • weil ich merke, dass er nie richtig kochen gelernt hat und sein Essen deswegen nicht wirklich schmeckt, das Kochen also an mir hängenbleibt,
  • weil ich merke, wie ich fast die ganze Verantwortung dafür übernehme, dass wirklich Nähe zwischen uns entsteht,
  • weil ich, sobald ich sage, was mich an seinem Verhalten stört, mit Abwehr und Relativierung rechnen muss,

dann bin ich nicht nur sauer darüber, dass ich nicht bekomme, was ich brauche. Zu dieser Wut hinzu kommt die ganze Diskriminierungserfahrung, die ich in 46 Lebensjahren aufgrund meines Frauseins in einer patriarchalen Gesellschaft gemacht habe. Und auch die, die alle anderen Frauen gemacht haben. Weil es mich unglaublich schmerzt und beeinflusst zu sehen, wieviel Gewalt, Ungerechtigkeit und Abwertung Frauen Tag für Tag erleben. Nicht alle Konflikte in der Partner*innenschaft sind auf patriarchale Prägungen zurückzuführen. Aber doch wesentlich mehr, als mir bewusst war. Was diese Prägungen für mich genau mit den oben genannten Themen zu tun haben, dazu werde ich später noch kommen.

Ist ein Ausbruch meines Wut-Staus fair gegenüber meinem Freund? Vielleicht nicht. Aber ist das patriarchale System fair? Ist es fair, was wir Frauen tragen und aushalten mussten und müssen? Ist es fair, dass wir darin häufig noch nicht einmal gehört, sondern als hysterisch, empfindlich oder nervig dargestellt werden? Nein! Und ich merke, wie ich mit meiner Geduld so oft am Ende bin, dass ich eben nicht alles auffangen, tragen und sanft vermitteln kann. Und ich will das auch nicht. Denn das ist genau die Verhaltensweise, die von Frauen nach wie vor gesellschaftlich erwartet wird.

Ich will, dass Männer anfangen, selbst etwas zu verändern, ihre Kraft und ihren Willen zusammennehmen, um dazu zu lernen, indem sie feministische Literatur oder Instagram Beiträge lesen, sich weiterbilden, Therapien machen, Frauen wirklich zuhören. Dass sie versuchen, es anders zu machen als ihre Väter. Und das passiert leider ganz und gar nicht in ausreichendem Maße.

Ich finde es unglaublich schwer, damit einen konstruktiven Weg zu finden. Denn es bringt ja nichts, wenn ich mich trotzig hinstelle und sage „Ich will aber!“ Und es passiert einfach nichts. Und gleichzeitig fehlen mir so oft die Kraft, der Wille und die Geduld, so zu agieren, dass ich die andere (männliche) Person nicht überfordere. Resignieren kommt für mich nicht in Frage. Auch wenn ich manchmal einen kleinen Impuls spüre, einfach den Kopf in den Sand zu stecken. Und Zynismus und Hass machen uns nur kaputt – das ist für mich auch keine Option. Also – gaaaaanz tief durchatmen und weitermachen. Und mich immer wieder auf Neue fragen: Wie kann ich als Schildkröte (Statustyp aus dem Veto-Prinzip) dem Patriarchat sinnvoll und konstruktiv etwas entgegensetzen?

Ein erster Schritt ist, von meinem persönlichen Weg zu schreiben, von meinen Erfahrungen, meinen Erkenntnissen, meinen Niederlagen und Erfolgen, mich zu solidarisieren mit anderen Frauen, die auch etwas bewegen wollen, die die Wut, die Ohnmachtsgefühle und die Trauer über unsere patriarchale Gesellschaft teilen. Verbunden mit der Hoffnung, dass dies auch ein paar Männer lesen, in denen sich dadurch etwas bewegt. Doch das habe ich nicht in der Hand.

Geschlechterklüfte und ihre Auswirkung auf die Paarbeziehung

Ich komme nun zurück zu den oben beschriebenen Konflikten in meiner Partner*innenschaft (Kochen lernen, Mitgefühl spenden, Nähe herstellen, Introspektion und Weiterentwicklung): In diesen Momenten finden in mir emotionale Eruptionen auf mehreren Ebenen statt.

Auf der ersten Ebene ist es schlicht und ergreifend so: Meine Bedürfnisse werden im Hier und Jetzt nicht ausreichend erfüllt. Ich gebe mehr, als ich bekomme und das fühlt sich ungerecht an. Würden wir nicht in einer patriarchalen Gesellschaft leben und gäbe es absolute Gleichstellung zwischen den Geschlechtern, dann läge dieses Problem lediglich auf einer persönlichen Ebene. Dann hätte es nicht so eine hohe Zündkraft. Je nachdem, wie ich biografisch geprägt bin, könnte ich damit besser oder weniger gut umgehen.

Hier kommt die zweite Ebene ins Spiel: Wir alle bringen unsere persönlichen Prägungen mit in die Beziehung, die daraus resultieren, wie wir aufgewachsen sind. Sie münden u.a. in negative Glaubenssätze und Schutzstrategien. Ich habe in meiner Kindheit die Glaubenssätze verinnerlicht: „Ich bin allein“, „Ich muss alles tragen“, „Niemand versteht mich“ und „Wie es mir geht, interessiert keinen“. Diese Sätze werden aktiviert, wenn mein Freund sagt, er weiß nicht, wie man Reis kocht. Oder wenn es mir schlecht geht und er mir Ratschläge gibt. Letztlich können männlich und weiblich sozialisierte Personen ähnliche Glaubenssätze und Schutzstrategien haben. Meistens haben Männer aufgrund ihrer Sozialisierung jedoch Schutzstrategien im Dienste der Autonomie (Abwehr, Machtstreben, Flucht…) und Frauen im Dienste der Bindung (Überanpassung, Klammern & Fordern, Idealisieren…).

Hier kommen wir zu den strukturell bedingten Ebenen, die in die ersten beiden Ebenen hineinwirken. Da bereits die persönliche Prägung und unser Handeln und Fühlen im Heute mit unserer rollenspezifischen Erziehung in einer patriarchalen Gesellschaft zusammenhängen.

Beginnen wir mit der dritten Ebene:

Die meisten männlich sozialisierten Menschen haben gelernt, dass Mann

  • nicht „schwach“ sein, Gefühle zeigen oder weinen darf,
  • überlegen sein und alles können muss,
  • auf keinen Fall Hilfe in Anspruch nehmen darf,
  • ein Anrecht auf den weiblichen Körper hat,
  • aus biologischen Gründen nicht so gut mit Kindern umgehen kann, wie eine Frau
  • nicht trösten und emotionale Nähe herstellen kann,
  • nicht so begabt für Haushaltsangelegenheiten ist es auch nicht sein muss,
  • keinen warmherzigen Körperkontakt mit anderen Männern haben darf,
  • Probleme nicht mit anderen besprechen kann,
  • nicht verletzlich sein darf usw.

Mein Vater hat noch niemals Wäsche gewaschen, geschweige denn Geschenke besorgt, weihnachtlich dekoriert usw. Ich habe ihn auch noch nie weinen sehen. Und er ist völlig überfordert von Gefühlen anderer Menschen (wenn jemand weint, geht er schnell aus dem Raum). Wenn er mich zur Begrüßung „umarmt“, klopft er schnell ein paarmal auf meinen Rücken. Und ich denke, das geht vielen in meiner Generation mit den eigenen Vätern genauso.

Die meisten weiblich sozialisierten Menschen haben gelernt, dass Frau

  • sanft, mitfühlend und nachgiebig sein muss,
  • hilfsbereit und emotional verfügbar sein muss,
  • sich um Kinder und Haushalt und überhaupt um andere Menschen kümmern muss,
  • insgesamt zu empfindlich und schwach ist,
  • Männern unterlegen ist,
  • weniger wert ist als ein Mann bzw. dass ihr Wert davon abhängt, ob sie den Männern gefällt,
  • nicht sicher ist vor männlicher Gewalt,
  • sexuell verfügbar sein muss,
  • schön und schlank sein muss, um Männern zu gefallen,
  • nur etwas wert ist, wenn sie in Beziehung mit einem Mann ist usw.

Auch diese Sozialisierung hat Auswirkungen auf unser Handeln und unser Erleben. U.a. in den Bereichen Sicherheit, Körperwahrnehmung, Selbstbestimmung, Selbstwert und natürlich auch Liebesbeziehung und Elternschaft. Schauen wir uns Filme und Serien an: Verstärkt in meiner Jugend – aber auch heute noch – werden Frauen gezeigt, die sich „zieren“ vor dem Sex mit einem Mann, die „nein“ sagen, aber eigentlich doch wollen (neulich erst wieder in einem alten James Bond Film gesehen). Die sich als Beute freiwillig jagen und erobern lassen. So ist über Jahrzehnte das Bild entstanden, dass Frauen, wenn sie „nein“ zum Sex sagen, eigentlich „ja“ meinen. Das empfundene Anrecht von Männern auf den weiblichen Körper spiegelt sich auch im Gesetz wider: Vergewaltigung in der Ehe ist in Deutschland erst seit 1997 strafbar!!! Vorher musste die Frau ihren „ehelichen Pflichten“ nachkommen und der Mann durfte gegen ihren Willen mit ihr Sex haben, sie also ungestraft vergewaltigen.

Die Haltung, dass Männer ein Recht auf den Körper einer Frau haben, sitzt so tief in unseren patriarchal geprägten Köpfen, dass Frauen es oft selbst glauben. Jetzt wo meine Tochter mit 15 Jahren ihren ersten Freund hat, tauchen tausend Ängste bei mir auf und Bilder von übergriffigen und beschämenden Situationen aus meinem Leben. Mir fallen z.B. zwei Situationen ein aus meinem jungen Erwachsenensein, in denen ein Mann meinen Körper im Halbschlaf begrapscht hat und ich so überfordert davon war, dass ich mich schlafend gestellt habe. Und die Männer haben einfach weitergemacht. Hinterher habe ich mich geschämt, wie ich nur so dumm sein kann, so etwas mit mir machen zu lassen. Ich habe mit anderen Frauen in meinem Alter darüber gesprochen: Sie kannten solche Situationen fast alle. Inklusive der selbstabwertenden Gedanken. Es wird Zeit, dass die „Scham die Seite wechselt“, wie Gisèle Pelicot so unfassbar klug und mutig sagt!

Wie oft habe ich Anmachen und Cat Calling erlebt und mich schmutzig gefühlt. Wie oft habe ich es nicht erlebt und mich hässlich gefühlt. Wie oft bin ich in ungesunden Beziehungen geblieben, weil ich Angst hatte, keinen mehr abzukriegen oder weil ich niemanden verletzen wollte. Wie oft fand ich mich zu dick, zu groß, nicht schön genug, nicht weiblich genug, nicht sanft genug, EINFACH NICHT GENUG! Ich habe so sehr gelernt, wie ich sein muss, um Männern zu gefallen und das war lange Zeit in meinem Leben ein großes Ziel. Davon habe ich meinen Wert abhängig gemacht. Gleichzeitig bin und war ich nie das „süße“ Mädchen. Ich habe mit meiner Lautstärke, meiner Größe, meinem starken Willen und meiner Wut nie so richtig ins klassische männliche „Beuteschema“ gepasst und mich deswegen minderwertig gefühlt. Ich habe viel Abwertung und Beschämung erlebt, eine große, manchmal laute, manchmal wütende Frau zu sein, die gerne ihrer Erwerbsarbeit nachgeht und die weiß, was sie will.

Auch die Auswirkungen des Patriarchats auf den Bereich Arbeitsbelastung, Entlohnung, Anerkennung und finanzielle Sicherheit sind immens: Frauen übernehmen viel mehr Care-Aufgaben, ohne dafür Anerkennung oder Geld zu bekommen. Inklusive des ganzen Mental Loads, der damit zusammenhängt. Und Männer bleiben oft in der Abwehr, wenn die Frau mit ihnen darüber sprechen will („Ich mach doch schon ganz viel“) oder gehen in eine Opferhaltung („Egal, was ich tue, nie reicht es dir“). Da Frauen durch die feministische Bewegung vermehrt einer Erwerbsarbeit nachgehen (zum Glück!), führt das zu einer Doppelbelastung, weil Männer nicht im gleichen Maß die „frauentypischen“ Aufgaben erlernen und übernehmen.

Hier ein paar Fakten:

  • Gender Care Gap (44,3%): Frauen in Deutschland leisten pro Woche rund 9 Stunden mehr unbezahlte Arbeit als Männer (Sorge tragen für Haushalt, Kinder, pflegebedürftige Angehörige, soziale Kontakte usw.)
  • Gender Pay Gap (18,3%): Frauen werden in gleicher Position mit gleicher Ausbildung und Erfahrung schlechter bezahlt als männlichen Kollegen.
  • Sexuality Gap und Migration Pay Gap: Frauen mit migrantischem Hintergrund werden noch schlechter bezahlt, genauso wie nicht heterosexuelle, nonbinäre und transgeschlechtliche Personen.
  • Das führt zu weniger Rente, Abhängigkeit vom Mann und einer finanziellen Katastrophe für die Frau nach einer Scheidung.

Ich kenne viele Frauen, die nach der Trennung plötzlich dastehen, ohne genutzte Karrierechancen, mit niedrigem Einkommen, auf der Suche nach einem Job, mit dem sie die eigene Wohnung bezahlen können, mit kaum Rente, weil sie dem Mann „den Rücken freigehalten“ und sich jahrelang um Haushalt und Kinder gekümmert haben. Ganz zu schweigen von den Frauen, die sich nicht trauen, sich zu trennen, weil sie Angst vor der damit verbundenen Armut haben. Ich habe mir sehr hart erkämpft, dass ich mir von Beginn an die Kinderbetreuung mit dem Vater 50%-50% geteilt habe. Dafür habe ich unglaublich viel Beschämung und Abwertung von außen erlebt. Es gab Phasen, da hat mein schlechtes Gewissen mich fast aufgefressen und ich habe mich gefühlt, wie die schlimmste „Rabenmutter“ der Welt. Mein Ex-Mann (der dieselbe Leistung vollbringt!) hat dafür sehr viel Lob, Anerkennung und Schulterklopfer bekommen (das Wort „Rabenvater“ gibt es nicht einmal).

Diese Erfahrungen auf der dritten Ebene setzen sich im inneren System fest. Ich würde behaupten: Das Gefühl von Ungerechtigkeit und der Schmerz über diese oder ähnliche Erfahrungen leben in allen Frauen. In manchen mehr, in manchen weniger. Manchen ist es mehr bewusst, manchen weniger. Einige leugnen es, weil sie nicht mit dem Schmerz darüber konfrontiert werden wollen. Und nicht mit den Konsequenzen, die sie daraus ziehen müssten. Von manchen unter ihnen lese ich Kommentare auf Instagram, die vernichtend sind gegenüber Frauen, die zugeben, dass sie vom Mental Load und der Care-Arbeit überfordert sind („Die sollen nicht jammern. Dann hätten sie halt keine Kinder bekommen sollen!“)

Zu „guter“ Letzt gibt es noch die vierte Ebene: das kollektive Trauma aufgrund des Frauseins. Kollektives Trauma bezieht sich – im Gegensatz zum zwischenmenschlichem – auf Traumata, die auf Unterdrückung oder Diskriminierung einer marginalisierten durch eine dominante Gruppe zurückzuführen sind. Je mehr ich mein Inneres für dieses Thema öffne, desto mehr spüre ich den Schmerz darüber, was Frauen in der Geschichte und Gegenwart auf der ganzen Welt aufgrund ihres Frauseins erleiden mussten und müssen. Wir Frauen sind so stark betroffen von männlicher Gewalt, Bewertung und Übergriffigkeit, dass ein Gefühl von Unversehrtheit und Sicherheit für uns unvorstellbar ist.

Hier ein paar Fakten aus Deutschland, um es spürbar zu machen:

  • Jeden Tag versucht ein Mann, seine Frau oder Ex-Frau zu töten, jeden 2. Tag gelingt es ihm.
  • Jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren aktuellen oder durch ihren früheren Partner.
  • Rund 180.000 Frauen waren 2023 von Häuslicher Gewalt betroffen.
  • Jede dritte Frau hat mindestens einmal in ihrem Leben physische und / oder sexualisierte Gewalt erlebt.
  • Zwei von drei Frauen erleben in ihrem Leben sexuelle Belästigung.
  • Jede siebte Frau wird Opfer schwerer sexualisierter Gewalt. Frauen mit Behinderung sind zwei bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als Frauen ohne Behinderung.
  • Frauen haben Angst, im Dunkeln unterwegs zu sein, oder vermeiden es ganz (55,3% vermeiden Parkhäuser, 80,4% Unterführungen, 48,9% Grünanlagen).

Diese Erfahrungen wirken selbstverständlich nicht nur als kollektives Trauma. Hinter diesen Zahlen stecken echte Menschen. Es sind äußerst reale, persönliche Erfahrungen, die sich bei den Betroffenen auf allen vier Ebenen traumatisch auswirken. Kollektiv wirksam sind sie aus dem Grund, dass ich als Frau auch dann Angst vor körperlicher und / oder sexualisierter Gewalt durch einen Mann habe, wenn ich sie nie selbst erlebt habe. Und dass ich den Schmerz von Frauen durch Generationen hinweg in mir spüre, wenn ich mich dem öffne.

Weiße heterosexuelle nichtbehinderte und nicht von Klassismus betroffene Cis Männer erleben Ebene 3 und 4 in ihrem Leben in der Regel nicht (mit Ausnahme des Holocaust als einem der größten kollektiven Traumata in der Geschichte). Sie erleben meistens auch weniger Schmerz auf den Ebenen 1 und 2, weil sie aufgrund ihrer Privilegien viel weniger Herabsetzung, Ungerechtigkeit und Ohnmacht erfahren. Ihre Bedürfnisse werden weitreichender erfüllt, als die von Frauen, weil Frauen dazu erzogen wurden, die Bedürfnisse von Männern zu erfüllen und Männer, dass sie dazu eine Berechtigung haben. Verheiratete Männer haben eine höhere Lebenserwartung als unverheiratete und verheiratete Frauen haben eine kürzere Lebenserwartung, als nicht verheiratete. Ist es da vermessen zu sagen, dass die Männer den Frauen durch ein ausbeuterisches System des Zusammenlebens ein paar Lebensjahre klauen?

Das alles aufzuschreiben, hilft mir ein wenig, in Konflikten mit meinem Freund oder mit anderen Männern, nicht immer wieder aufs Neue Dinge erklären zu müssen, Statistiken und Fakten aufzuzählen, eigene grenzüberschreitende Erfahrungen zu erzählen und mit der männlichen Abwehr darauf umzugehen. Ich kann dann auf diesen Text verweisen. Und mir ein bisschen Kraft und Zeit sparen. Hoffentlich – mal sehen…!

Denn da Männer gelernt haben, dass sie keine Schwäche oder Verletzlichkeit zeigen dürfen und keine Fehler machen, dass sie Frauen überlegen sind (und natürlich auch, weil sie vom patriarchalen System profitieren), finde ich es äußerst herausfordernd, mit Kritik an ihrem Verhalten an sie heranzukommen.

Mit Männern über Sexismus und patriarchale Prägungen zu sprechen ist bei mir immer mit der Angst verbunden, dass

  • meine Wahrnehmungen und Erfahrungen relativiert und in Frage gestellt werden (Gaslighting),
  • mir Ratschläge gegeben werden, wie ICH mich anders verhalten könnte, ich als empfindlich betitelt werde oder der Spruch kommt „Dir kann man es auch nie recht machen“ (Victim Blaming – Täter-Opfer-Umkehr),
  • mir gesagt wird, ich könne das doch auch etwas ruhiger und netter sagen und muss nicht gleich so aufbrausend sein (Tone Policing),
  • gesagt wird, dass doch alles mittlerweile schon viel besser ist mit Aufzählung von Fakten (Mansplaining und Relativieren),
  • Abwehrmechanismen kommen wie z.B. „es gibt aber auch Rassismus“ und „in anderen Ländern ist es noch schlimmer“ (Whataboutism),
  • sie sagen, dass sie es genauso sehen, sie sich damit auseinandersetzen und sich für Gleichberechtigung einsetzen und dann sehe ich den Worten wenig Taten folgen. Dass sie also reden, aber nicht handeln und sich lieber wieder dem Sport oder der Kultur zuwenden (Selbstüberschätzung und Verdrängung),
  • mir Männerfeindlichkeit vorgeworfen wird, gesagt wird, dass auch Männer Gewalt erleben und nicht alle Männer so sind (Derailing).

Ja, nicht alle Männer sind gleich. Und Männer erleben auch Gewalt. Das weiß ich. Das ist fürchterlich. In der Regel erleben sie Gewalt von anderen Männern. D.h. sich für eine feministische Welt einzusetzen widmet sich auch dem Problem der Gewalt gegen Männer. Es geht hier nicht um einen Wettbewerb. Es geht auch nicht um einen Kampf Frauen gegen Männer. Mir geht es um einen gemeinsamen Kampf aller Geschlechter gegen das Patriarchat.

Zeitgleich zu meiner Wut empfinde ich auch Trauer und Mitgefühl, weil es bei allen Privilegien nicht leicht ist, ein Junge oder ein Mann im Patriarchat zu sein. Ein Leben lang zu lernen, seine Gefühle zu unterdrücken bedeutet, niemals wirklich sich selbst sein zu können, sich nicht kennen- und verstehen zu lernen, keine wirklich nahen, warmen und nährenden Beziehungen aufbauen zu können, schwierige Dinge allein und mit sich selbst auszumachen, sich zu schämen für alles „Schwache“ in sich, ständig zu maskieren und eine Rolle zu spielen. Die Abschaffung des Patriarchats bringt die ganze Gesellschaft weiter, führt zu mehr Freude, Zufriedenheit, Verbindung und Gesundheit bei allen Geschlechtern.

Die oben genannten Mechanismen rühren ja genau aus dieser Abwehr der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit. Mit diesen Reaktionen umzugehen ist für Frauen unfassbar erschöpfend, ermüdend, schmerzhaft und auch retraumatisierend. Weil ich dann nicht nur mit meinen diskriminierenden Erfahrungen der Vergangenheit belastet bin, sondern gleich neue dazukommen. Systemisches Gaslighting geht an die Substanz: „Es ist eine furchtbare Erfahrung, wenn eine ganze Gruppe oder sogar der größte Teil einer ganzen Kultur oder Gesellschaft dir sagt: „Wie leugnen deine Realität! (…) Es geht dabei darum, alles zu leugnen und loszuwerden, was diese angreift.“ (Gitta Peyn)

Was der Feminismus versucht, ist, unsere individuellen Erfahrungen, Emotionen und Wahrnehmungen in einem größeren Ganzen zu verankern. Ein Bewusstsein zu erlangen und Begriffe zu finden für die Formen von Gewalt an Frauen ist ermächtigend. In den 50er Jahren hat eine Frau in der Regel einem Griff an den Po von einem Mann nichts entgegengesetzt, vielleicht hat sie sogar gekichert. Ein Störgefühl hatte sie sicher meistens. Aber eines, das sie nicht benennen konnte. Für das sie keine Worte hatte. Sexistische Witze, Catcalling und übergriffiges Flirten stehen nach wie vor an der Tagesordnung und begleiten den Alltag von Frauen. Catcalling ist in Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal und den Niederlanden bereits ein Straftatbestand. Ich hoffe, Deutschland folgt. Pierre Bourdieu hat dafür den Begriff der symbolischen Gewalt geprägt, um Worte zu finden, die Gewalt jenseits des Physischen benennen.

Auch die Begriffe für die Formen von Abwehrmechanismen schaffen eine Sprache, durch die es überhaupt erst möglich ist, persönliche Erfahrungen mitzuteilen und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Das schafft Verbindung untereinander und holt Frauen ein Stück weit aus ihrer Ohnmacht und Isolation heraus. Ohne das Wissen um das Strukturelle führe ich als Frau Überforderung, Schmerz, Beschämung usw. schnell auf persönliches Versagen, Unzulänglichkeit, Empfindlichkeit und Schwäche zurück. Und das beschädigt massiv meinen Selbstwert. Zudem kann ich von meinem Partner (oder der Gesellschaft) nicht fordern, etwas zu verändern, wenn ich die Ungerechtigkeit nicht erkenne.

„Wenn wir das Thema weiter als private Frage behandeln, können Männer als Gruppe die Macht über die Frauen bewahren. Es ist also unerlässlich, die individuelle Ebene in einem größeren Kontext zu betrachten, denn so funktioniert Unterdrückung: Sie materialisiert sich in kleinen, individuellen Situationen, was den Eindruck vermittelt, es handelte sich nicht um ein System, sondern um persönliche Interaktionen. Wenn wir uns auf die individuelle Ebene fokussieren, wird Ungerechtigkeit wie ein Konflikt behandelt. Doch diese Konflikte sind in breiteren Unterdrückungssystemen verankert, die auf einer Machtasymmetrie basieren. Wer die ungleiche Aufteilung der Hausarbeit als Konflikt bezeichnet, verharmlost die Realität und suggeriert eine falsche Gleichheit der beiden Konfliktpartner*innen.“ Emilia Roig

Diese „Vier Ebenen des Vulkans“ wirken in unsere Liebesbeziehungen:

 

Was bedeutet das für die Arbeit mit Paaren?

Bezogen auf meine Paarbeziehung: Meine unter der Oberfläche angesammelte Lava potenziert sich zu emotionalen Eruptionen und kann zum Vulkanausbruch führen, wenn ich meinen Freund bitte, besser kochen zu lernen, damit das nicht an mir hängen bleibt und er es immer wieder abblockt und sich verteidigt, anstatt mit mir darüber in ein Gespräch zu kommen. Mein Bedürfnis wird nicht erfüllt (Ebene 1), mein Gefühl, alles allein tragen zu müssen wird aktiviert (Ebene 2), die Wut darüber, dass ich als Frau in meinem Leben so viel mehr Arbeit leisten musste, die nicht anerkannt und sogar geleugnet wird kommt hoch (Ebene 3), die Ohnmacht darüber, wie ungerecht die Situation für Frauen auf der Welt ist überwältigt mich. Die Situation hat Einfluss auf alle vier Ebenen und meine angesammelte Lava schießt nach oben. Was wiederum dazu führt, dass ich in Schutzstrategien verfalle (Angriff und Attacke) und als aufbrausend und ständig unzufrieden erlebt werde. Je weniger Privilegien, desto mehr Lava sammelt sich auf allen vier Ebenen an.

Wenn ich als Paar meine Beziehung reflektiere und dabei auf wiederkehrende Konflikte schaue, kann ich diese tieferliegenden Ebenen nicht außer Acht lassen. Ich habe als Klientin Therapiesitzungen erlebt, da wurde nur die erste Ebene beleuchtet. Ihr könnt euch vorstellen, wie weit wir da als Paar gekommen sind. In den meisten Paartherapien wird mittlerweile zumindest die zweite Ebene miteinbezogen z.B. mit der Frage: „Kennst du das Gefühl aus deiner Vergangenheit, das dein*e Partner*in in dieser Situation in dir auslöst?“ Die dritte und erst recht die vierte Ebene werden selten betrachtet. Was dazu führt, dass manche Konflikte sich auf Dauer nicht lösen. Ohne das Wissen und Verstehen über die Prägungen und Erfahrungen – beides findet auf persönlicher und struktureller Ebene statt – ist Veränderung im Hier und Heute wesentlich schwieriger, weil uns bestimmte Muster nicht in aller Tiefe und in ganzem Ausmaß deutlich werden. Wir haben trübe Flecken, die verhindern, dass wir das große Ganze sehen und verstehen und aus diesem emotionalen und kognitiven Verstehen heraus Veränderungen anstreben, bei denen wir uns aus tiefen Mustern  und Rollenzuschreibungen lösen müssen.

Strukturelle Benachteiligung wirkt so weit ins Persönliche hinein, dass Therapie ohne die Auseinandersetzung mit diesen Themen für mich nicht ausreichend in die Tiefe geht. Meine strukturell bedingten Erfahrungen haben immense Auswirkungen auf mein persönliches Leben und Erleben.

Denn:

  1. Unsere Erziehung prägt unser Verhalten.

So dass patriarchale Rollenmuster wiederholt werden und Schmerz und Ungerechtigkeit reproduziert und an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn wir sie nicht reflektieren und gezielt entlernen.

  1. Unsere (Schmerz-)Erfahrungen prägen unser Nervensystem und unser Gehirn.

So dass Gefühle von Ohnmacht, Angst, Selbstwertmangel und Unterlegenheit sich verfestigen und an die nächste Frauen-Generation weitergegeben werden.

Wenn das Strukturelle außer Acht gelassen wird,

  • sehen Männer oft nicht, was an der Aufgabenverteilung ungerecht sein soll. Sie nehmen gar nicht wahr, was die Frau alles macht, oder was sie nicht können, weil es ohne das strukturelle Verstehen für sie unsichtbar bleibt.
  • erlebt das Paar, dass nur die Mutter die Kinder trösten oder ins Bett bringen kann. Weil die Einsicht fehlt, dass Kindern bei Vätern in diesem Kontext oft das Fürsorgliche, Emotionale und Warmherzige fehlt. Den Männern entgeht die Möglichkeit, das zu lernen und eine engere Bindung zu ihren Kindern zu entwickeln. Den Frauen entgeht Autonomie, Entlastung und Gerechtigkeit. Ihnen wird dann sogar oft noch vorgeworfen, dass sie selbst Schuld sind, weil sie nicht loslassen können.
  • wird übersehen, dass der Mann, wenn er zu Hause wenig Verantwortung übernimmt, in Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Erwartung handelt, eine Frau, die dies tut, jedoch nicht. Das heißt, der Mann wird darin bestärkt, die Frau wird dafür abgewertet.
  • wird der Frau vom Mann im Konflikt oft das Gefühl vermittelt, empfindlich, hysterisch oder nie zufrieden zu sein. Ohne das Sichtbarmachen von Privilegien kann echtes Verstehen nicht stattfinden, Schmerz und Wut nicht nachvollzogen und Ungerechtigkeit nicht bekämpft werden.
  • sieht die*der Paartherapeut*in die Unzufriedenheit und Wut der Frau als deren persönliches Problem und fordert sie vielleicht auf gelassener, geduldiger oder entspannter zu sein. Eine gewisse Ruhe und eine nicht abwertende Sprache sind für die Paartherapie sicher hilfreich. Ohne einen machtkritischen Blick kann diese Aufforderung jedoch dazu führen, dass Frauen die persönliche Verantwortung für Machtungleichheit aufgebürdet bekommen. Und dass sie immer weiter ihre angestauten Gefühle und ihren Frust unterdrücken, damit es den Männern nicht unbehaglich zumute wird. Das kann sehr erschöpfend sein und schlägt sich in physischen und psychischen Erkrankungen nieder.

Es geht hier nicht um Schuld. Es geht um Sichtbarkeit und die Übernahme von Verantwortung. Es geht auch nicht darum, dass in Paartherapien feministische Diskurse stattfinden oder intellektuelle Gespräche über das Patriarchat. Abstrakte Gespräche verhindern echte Begegnung. Es geht darum, dass ich als Therapeutin meine persönlichen Erfahrungen diesbezüglich reflektiere und bearbeite und dass ich das Wissen um das Strukturelle in mir trage, so dass es in meine Beratungen mit hineinwirken kann, je nach Thema, Situation und Paar, das vor mir sitzt. Ob, wann und wie ich es in eine Paarsitzung konkret einbringe – darum geht es hier noch gar nicht.

Ich liebe in diesem Zusammenhang das folgende Zitat von Walter Kempler über die erlebnisorientierte Familientherapie:

„Sie basiert auf der Annahme, dass jeder einzelne in diesem Augenblick seines Lebens eine einzigartige Zusammensetzung aus seiner gesamten Vergangenheit ist, dass der Aspekt oder die Facette, die für den aktuellen Augenblick am wichtigsten ist, zum Vorschein kommen wird und dann die ganze Vergangenheit der Person hindurchschimmert, so als blickte man in einen Diamanten hinein. Grundlegend für diesen Ansatz ist der Glaube an die Bedeutung des Unmittelbaren, des Gegenwärtigen, und zwar nicht, um eine weiter gefasste Perspektive auszuschließen, sondern um einen Mittelpunkt zu schaffen, mit dem man weiter gefasste Perspektiven leicht in Beziehung setzen kann.“

Hier wird für mich deutlich, dass Bezüge zur Vergangenheit (und für mich eben auch zum Strukturellen) dann hergestellt werden können, wenn sie im aktuellen Moment der Beratung relevant sind, also „durchschimmern“. Das kann eine kleine Erwähnung sein, die ich als Therapeutin mache, die etwas verdeutlicht. Es kann auch sein, dass dadurch ein Tor geöffnet wird und der Frau z.B. plötzlich deutlich wird, wie sehr sie sich durch ihre Prägung innerhalb der Beziehung selbst zurückgenommen hat. Und Schmerz und Wut brechen als Vulkan hervor, was reinigend und transformierend wirken kann, wenn die Partner*innenschaft bisher stagniert und Konflikte sich nicht verändert haben.

Beziehe ich in meiner inneren Haltung geschlechtsspezifische Erfahrungen nicht in die Sitzung mit ein, kann es sein, dass mich ein bestimmtes „männliches“ oder „weibliches“ Verhalten triggert, oder dass ich Zusammenhänge nicht verstehe und verletzende Äußerungen mache und eine Person mit meinem Verhalten im schlimmsten Fall retraumatisiere. Als ich mit meiner (ehemaligen!) Therapeutin über einen sexistischen Vorfall gesprochen habe, der mich sehr wütend gemacht hat, hat sie mich allen Ernstes gefragt, ob ich ein Problem mit meiner Weiblichkeit habe???!! Weil ich ein „Kompliment“ eines Mannes als übergriffig empfunden habe. No further comment!

Mir wurde erst spät klar, dass meine Gefühle von Selbstwertmangel, Ohnmacht, Wut und Unterlegenheit nicht nur auf persönlicher Ebene begründet liegen, sondern auch auf meinen Erfahrungen und meiner Sozialisierung als Frau im Patriarchat. Je mehr ich mich innerlich auch auf Ebene drei und vier begebe, kann ich meine Traumata und meinen Schmerz anders einordnen und verarbeiten. Ich kann aufhören, mich damit komisch, schuldig und falsch zu fühlen und mich mit anderen weiblich sozialisierten Menschen verbinden. Das war für mich ein existenzieller Schritt auf meinem Weg der Heilung.

Und ich sehe und erlebe, wie bereichernd dieser Weg für Männer ist, die dadurch mehr Lebendigkeit erreichen, tiefere Begegnungen und engere Beziehungen.

Was Männer tun können:

  • Frauen wirklich zuhören (vor allem wenn sie von diskriminierenden Erfahrungen berichten),
  • Lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen und darüber zu sprechen (in der Partner*innenschaft und ihren Freundschaften),
  • Lernen mitzufühlen (ich kann nur mitfühlen, wenn ich selbst fühle, sonst laufe ich Gefahr zu relativieren und zu beschwichtigen),
  • Lernen zu trösten und sich zu kümmern,
  • Mehr Mental Load und Care-Arbeit übernehmen (ggf. googlen, was das ist),
  • Googlen, wie sie Babybrei oder Reis kochen oder den Trockner bedienen,
  • Sich dafür selbst oder gegenseitig Lob und Anerkennung geben und das nicht von Frauen erwarten,
  • Sich über geschlechtsbedingte Ungerechtigkeiten informieren und sich dafür einsetzen, dass sie behoben werden,
  • Ihr eigenes Verhalten reflektieren und verändern,
  • Ihre Söhne sensibilisieren, was sexueller Konsens bedeutet,
  • Mit ihrem Verhalten dafür Sorge tragen, dass Frauen sich sicherer fühlen.

Ich neige in meinem Leben zum Kampf und das ist auch nicht immer schlecht. Aber wenn ich in der Wut verharre und in meiner Haltung: „Das darf so alles nicht sein“ und „Die müssen doch auch mal endlich…“, dann stecke ich fest. Wenn ich zulasse, dass Sexismus aktuell eine Tatsache ist, dann kommen alle Gefühle in mir hoch, die ich im reinen Kampf versuche zu verdrängen – Schmerz, Ohnmacht, Wut, Trauer. Und aus ihnen kann etwas Großes erwachsen, wenn ich mich ihnen stelle und sie integriere. Das ist ein Kampf, der auf Weisheit, Solidarität und Mut basiert.

Diese Fähigkeit nennt sich „Patriarchats-Resilienz“: Das ist die Fähigkeit, mit patriarchaler Ungerechtigkeit besser umgehen zu können. Und erstaunlicherweise kann ich dann auch wieder liebevoller auf meinen Freund blicken und wirkliche Verbundenheit herstellen. Ich verstehe besser, wie schwierig es ist, Kontakt zu den eigenen Gefühlen zu bekommen, wenn ich das als Junge von klein auf abtrainiert bekomme. Ich kann mit einer größeren Ruhe von meinen persönlichen Eindrücken, Gedanken, Erfahrungen und Gefühlen alle Ebenen betreffend berichten. Ich kann in eine sinnvolle Beharrlichkeit finden und deutlich und ruhig den Wunsch äußern, dass er sich mit seiner Prägung als Mann auseinandersetzen soll.

Das ist nicht immer einfach und mit Aufs und Abs verbunden. Manchmal klopfe ich mir stolz auf die Schulter, weil ich im Streit mit meinem Freund ruhig und gleichzeitig klar geblieben bin. Manchmal erfüllt mein Freund sämtliche patriarchale Abwehrstrategien. Und mein Vulkan bricht regelmäßig aus. Dann habe ich das Gefühl, ich bin auf der Resilienz-Skala wieder bei Minus 700. Das versuche ich mir zu verzeihen. Es gibt mittlerweile auch lange Phasen der Ruhe in unserer Beziehung. Gleichzeitig verändern wir uns beide. Und wachsen miteinander. Die Verbindung, die auf dieser Basis entstehen kann, ist so tief, wie wir sie als Paar nicht erreichen können im Leugnen oder im reinen Bekämpfen dieser Ebenen.

Ich glaube, es ist eine Illusion zu denken, dass wir irgendwann souverän und ruhig mit patriarchalen Mustern und antrainierten Schutzstrategien umgehen. Entwicklung verläuft nicht linear. Resilienz bedeutet für mich auch, dass wir uns nach Konflikten schneller wieder fangen und annähern, dass ich patriarchale Muster bei meinem Freund (jedenfalls manchmal) besser so stehenlassen kann, ohne sie zu akzeptieren. Mehr und mehr finden wir auf einen Weg, auf dem wir uns gemeinsam mit aller Kraft gegen das Patriarchat stellen, um Umstände, die im Moment Tatsachen sind, für die Zukunft zu verändern. Und das ist für mich das Ziel: Uns in der Beziehung zusammen und als Team für Gleichwürdigkeit und Gerechtigkeit einzusetzen.

Und wisst ihr, was ich im Moment feststelle:

Mehr Patriacharts-Resilienz kann ich nur entwickeln, wenn ich zwischendurch Zeitspannen habe, in denen ich mich ausruhe, das ganze Ausmaß der Gewalt und Ungerechtigkeit (zumindest in Teilen) verdränge (ich weiß – privilegierte Position meinerseits) und mich einfach Dingen widme, die mich auftanken: Fischstäbchen anbraten, ein Bad nehmen, Tierdokus anschauen, einen Krimi lesen (in dem nicht haufenweise Frauen umgebracht werden), dabei in meinem Hängeschaukelkorb liegen und zwischendurch in die herbstlichen Bäume schauen.


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