
Der Weg zur veto-kompetenten Familie
Wir alle werden geboren im Land der inneren Freiheit. Unser gesamtes Sein ist dort ausgerichtet auf Sicherheit und Verbundenheit. Wir alle haben einen unverletzten Kern, der uns als einzigartiges Individuum ausmacht. Dann beginnt unser Lebensweg, auf dem wir bestimmte Erfahrungen machen. Wie steinig oder leicht begehbar dieser für uns wird, ist stark davon beeinflusst, wie viele Privilegien in meiner Familie vorhanden sind. Und wie unsere Eltern uns auf diesem Weg begleiten. Je nachdem, ob sie sich im Land des inneren Gehorsams oder im Land der inneren Freiheit bewegen, werden wir sehr unterschiedlich geprägt.
Im Land der inneren Freiheit lernen wir,
• dass wir Grenzen haben und diese zeigen dürfen
• dass diese Grenzen jederzeit geschützt werden
• dass wir Bedürfnisse äußern dürfen, ohne beschämt oder bewertet zu werden
• dass unsere Eltern Bedürfnisse und Grenzen haben und dafür Verantwortung übernehmen
• wie vertraut es sich anfühlt, wenn unsere Eltern sich authentisch und persönlich zeigen
• uns in andere Menschen empathisch hineinzuversetzen
• dass es in einer Gemeinschaft darum geht, die Bedürfnisse aller in guter Balance zu halten
• wie es sich anfühlt, in Sicherheit und Verbundenheit zu leben
Leider wachsen die meisten Menschen im Land des inneren Gehorsams auf und leben dort schon sehr lange, wenn sie Eltern werden. Dort haben sie kein Vertrauen mehr in ihre natürliche Autorität. Sie haben vergessen, dass Kinder mit der Anlage zu Bindung und Kooperation auf die Welt kommen. Sie wissen oft nicht genau, was ihre Kinder brauchen, um diese Fähigkeit zu bewahren. Sie begegnen ihnen mit wenig Vertrauen und mit Angst und Unsicherheit. Sie wollen nichts falsch machen, sie wollen, dass die Kinder im Leben zurechtkommen, sie wollen nicht, dass sie ihnen auf der Nase rumtanzen. Im Land des inneren Gehorsams geht es oft um Optimierung, um Mithalten, um Konkurrenz. Da ist es sehr schwer, das Vertrauen, die Kraft und den Mut aufzubringen, neue Wege mit den Kindern zu gehen. Also gehen die meisten Menschen die alten und bekannten Wege. Alles, was uns bekannt ist, gibt uns Sicherheit. Selbst dann, wenn wir es nicht richtig finden und es nicht unseren Werten entspricht.
Im Land des inneren Gehorsams lernen wir,
• dass es unerwünscht und gefährlich sein kann, unsere Grenzen zu zeigen
• dass es nicht selbstverständlich ist, dass diese geschützt werden
• dass unsere Bedürfnisse unwichtig sein können
• dass es Normen gibt und dass wir falsch sein können
• dass wir uns anstrengen müssen, um zu genügen
• dass wir darum kämpfen müssen, genug von dem zu bekommen, was wir brauchen
• dass wir herausfinden müssen, wer unsere Eltern sind, weil wir es nicht spüren
• dass Sicherheit und Verbundenheit keine Selbstverständlichkeit sind
Um uns als Eltern im Land des inneren Gehorsams einigermaßen sicher zu fühlen, greifen wir auf autoritäre Instrumente zurück. Wir nutzen sie als Stütze, weil wir den Halt nicht in uns selbst spüren. Um uns als Kind in diesem Land einigermaßen in Sicherheit zu fühlen, fangen wir an, uns zu verbiegen und uns an die Erwartungen der Erwachsenen anzupassen. Wir entwickeln Strategien, um uns zu schützen und mit dem Verlustschmerz umzugehen. Dafür zahlen wir einen hohen Preis: Wir verlieren mehr und mehr unsere wahre Identität. Doch dieser Schmerz, das Land der inneren Freiheit zu verlassen und den Eltern zu folgen, ist leichter zu ertragen als die (innere) Trennung von den Eltern. Zumal wir ohne sie nicht überleben können.
Und wenn wir eines Tages selbst Eltern werden, haben wir fast vergessen, wie es ursprünglich gedacht war und wie sich das Leben anfühlen soll. Wir spüren nur noch eine große Sehnsucht. Unsere Schutzstrategien, um diese Sehnsucht zu befriedigen, wenden wir als Erwachsene weiter an. Nur leider führen sie heute zum Gegenteil von dem, was sie bezwecken sollten und als Kind auch bezweckt haben. Als Kinder mussten wir einen Teil unsere Integrität aufgeben, um die Bindung an die Eltern nicht zu verlieren. Als Erwachsene müssen wir dieses Land des inneren Gehorsams wieder verlassen, um wahre Verbundenheit und Sicherheit in uns selbst zu empfinden und von da aus in lebendige und nahe Verbindung mit anderen Menschen zu finden.
Dieser Schritt bedeutet: Du kannst den Veto-Fluss überqueren, indem du für alle Beteiligten in der Familie das persönliche Veto-Recht anerkennst. Das erfordert Mut, denn wir sind so sehr daran gewöhnt, es nicht zu haben. Aber wenn du dich traust, das Vertraute zu verlassen und in ein Land zu gehen, in dem du dich nicht auskennst, wartet dort eine große Belohnung: Lebendigkeit, Heilung (auch eigener Wunden) und nährende Verbindungen. Und wir merken: In Wahrheit ist es unser Geburtsland, unsere Heimat. Dieses Wissen und das Vertrauen können sich Schritt für Schritt in uns aufbauen. Deswegen ist es gut, langsam zu gehen, sich Zeit zu lassen. Und gleichzeitig beharrlich dranzubleiben.
Im Land der inneren Freiheit ist zuerst alles unbekannt. Wir kennen den Weg nicht, wir wissen wenig über die Beschaffenheit der Natur und wie wir uns sicher darin bewegen können. Es ist die Angst des Ent-setzens, des Loslassens von Vertrautem. Deshalb ist es schöner, den Weg nicht alleine zu gehen, sondern gemeinsam mit anderen Menschen. Wir können uns Reiseführer*innen mitnehmen, die uns eine Weile begleiten. Uns die Gegebenheiten zeigen und erklären, uns konstruktive Instrumente der Orientierung an die Hand geben und wo wir ausprobieren und scheitern dürfen. So ein Reisebegleiter kann zum Beispiel der Workshop „Die veto-kompetente Familie“ sein. Mit der Zeit müssen wir uns immer weniger schützen, weil wir Strategien und Tools lernen, um unsere Bedürfnisse auf eine Weise zu erfüllen, die uns in Verbindung und nicht in Trennung mit anderen bringt. Wir lernen, dass Verbundenheit durch Differenz überhaupt erst möglich ist. Wir sollten uns zwischendurch ausruhen und nicht das ganze Land auf einmal erkunden wollen. Wir können unsere Schrammen und Blasen an den Füßen gut versorgen. Sie werden weniger, wenn wir uns besser auskennen. Und irgendwann können wir uns dann viel sicherer durch das Gelände bewegen.
Dann passieren die unglaublichsten Dinge: Wir empfinden mehr Vertrauen und immer öfter das Gefühl, angekommen zu sein. Wir fühlen uns in uns selbst mehr zu Hause und erleben die Nähe zu unseren Kindern auf eine neue Weise. Je nachdem, wie lange wir im Land des inneren Gehorsams gelebt haben, dauert es eine Zeit, bis wir uns sicher bewegen und das Ausmaß der Schönheit erkennen können. Wir werden zwischendrin schnell zurückschwimmen wollen ins Land des inneren Gehorsams. Weil uns der Mut verlässt, weil alles zu anstrengend erscheint und wir unsicher sind, ob es sich am Ende lohnt. Das ist in Ordnung. Wir können uns jederzeit entscheiden, wieder zurückzukehren ins Land der inneren Freiheit. Die Zeitspannen, in denen wir uns dort aufhalten, können immer länger werden, bis der Punkt kommt, an dem wir nicht mehr zurückwollen. An dem wir erkennen, dass dort unsere Heimat ist, der Ort, von dem wir kommen und an dem wir leben wollen. Es fühlt sich dann an, wie nach Hause kommen.
Wenn ihr im Land der inneren Freiheit zu Hause seid, könnt ihr dort auch für eure Kinder ein Zuhause einrichten. Auch wenn ihr mit eurer Familie schon eine Weile im Land des inneren Gehorsams gelebt habt und die Kinder etwas älter sind – es ist nie zu spät für einen Umzug. Ihr könnt jederzeit sagen: Jetzt haben wir hier so lange gelebt und eigentlich gefällt es mir gar nicht wirklich. Wir ziehen um. Wohin, wo es schöner ist. Ich kenne mich da selbst noch nicht so aus und muss noch viel lernen. Ich bin bereit und trage die Verantwortung. Und wenn ihr die Wegbegleiter*innen eurer Kinder im Land der inneren Freiheit seid, lernen sie, sich sicher darin zu bewegen und mit ihren eigenen Potentialen Verantwortung für ihr Leben und für die Welt zu übernehmen.
Ich freue mich über alle, die sich mit mir auf diese Reise machen wollen!