Wie unsere Kinder zu freien Menschen werden – von „Marionettenspielern“ und „Tyrannen-Kindern“ (Vortrag BAGE Fachtagung)

Wie unsere Kinder zu freien Menschen werden – von „Marionettenspielern“ und „Tyrannen-Kindern“ (Vortrag BAGE Fachtagung)

Wenn ihr lieber hört und schaut statt lest, dann ist hier der gefilmte Vortrag auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=NKJG8LybzUQ

Vortrag BAGE Fachtagung „Auf zu neuen Ufern?“ am 15. November 2019:

Mein Name ist Stefanie López. Ich habe Schauspiel und Theaterwissenschaft studiert. 2007 habe ich meinen Schauspielberuf an den Nagel gehängt und angefangen, mit Jugendlichen Theater zu machen. Ich habe 2008 einen Verein gegründet, ACT e.V., den ich seit 2013 zusammen mit Maike Plath und Anna Maria Weber leite. Als ich angefangen habe, mit Jugendlichen zu arbeiten, war das an einer Hauptschule in Berlin-Schöneberg. Die Jugendlichen einer 9. Klasse haben mir gesagt: „Wir sind die schlimmste Schule Schönebergs und wir sind die schlimmste Klasse der Schule.“ Sie wollten mich darauf vorbereiten, was mich erwartet. Und tatsächlich, war normaler Unterricht kaum mehr möglich. Ich habe beobachtet, dass von Seiten der Lehrer*innen immer autoritärer dagegen angegangen wurde. Ich wusste, dass ich das so nicht machen will. Ich wusste aber auch, dass ich etwas erreichen will mit den Jugendlichen. Ich habe mir also die Frage gestellt: Wie können alle ihr Eigenes einbringen (und dabei frei sein) und wie kann ich aber gleichzeitig die Führung im Projekt übernehmen und die Verantwortung dafür, dass wir unser Ziel erreichen (nämlich, dass die Jugendlichen ihr Eigenes finden und daran glauben und dass wir am Ende eine gemeinsame Aufführung haben, in der sich das widerspiegelt)?

Diese Frage, wie sind Freiheit UND Führung möglich, liegt unter meiner ganzen Arbeit. Ich arbeite im Verein nach wie vor mit Jugendlichen, ich leite eine freie Theatergruppe in Kreuzberg, ACTIVE PLAYER. 2018 habe ich mit „Familienbande“ begonnen, auch Workshops für Eltern und pädagogisches Fachpersonal zu geben.

Einleitung
„Auf zu neuen Ufern“ ist ja das Thema der Fachtagung. Und wenn wir zu neuen Ufern kommen wollen, müssen wir weit schwimmen. Das ist anstrengend. Veränderung ist anstrengend, weil wir als Menschen gerne in unserer eigenen Komfortzone bleiben. Und uns so verhalten, wie wir es schon immer gemacht haben und wie wir es kennen. Wenn wir immer auf dieselbe Autobahn aufgefahren sind, dann ist es mühsam, eine neue Schneise zu schlagen und plötzlich einen anderen Weg einzuschlagen in unserem Verhalten.

Aber unser Verhalten und unsere Gedankenmuster sind nicht gleichzusetzen mit dem, wer wir wirklich sind. Unsere Authentizität geht viel weiter als das, was wir täglich impulsiv abrufen. Wir sind nicht einfach so, wie wir sind, weil wir so geboren wurden und authentisch sind. Wir sind auch so geworden durch Erziehung und andere äußere Einflüsse. Wir haben uns bestimmte Verhaltensmuster angeeignet, die wir als Kinder vorgelebt bekommen haben und mit denen wir in unserer Kindheit die Erfahrung gemacht haben, dass wir so am besten in unserer Familie und Kita/Schule zurechtkommen. D.h., wie wir heute sind, können wir nicht einfach als authentisch bezeichnen. Wir sind so geworden. Aus guten Gründen.

Die Frage, um die es heute geht ist, wie können wir wieder zu unserer eigenen Authentizität finden, die alle Anteile von uns umfasst, um dann im nächsten Schritt auch die Kinder ihr Eigenes finden und leben zu lassen, das möglicherweise von unserem abweicht? Wie können wir uns in diesem Anderssein begegnen, unsere individuellen Grenzen mitteilen, unserer Verantwortung als Erzieher und Erzieherin und auch als Eltern gerecht werden und gleichzeitig die Kinder in die Freiheit entlassen? Denn wie auch bei uns: Wie sich die Kinder später als Erwachsene fühlen und verhalten werden, hängt maßgeblich von ihrer heutigen Erziehung ab.

Ich bin der Überzeugung, dass es sich, bei aller Anstrengung, lohnt, zu neuen Ufern aufzubrechen, weil uns dort vielleicht die wunderschönsten Orte erwarten. Und weil es auf lange Sicht effektiver, weniger anstrengend und freudvoller ist. Ich nenne das „die Säge schärfen“ – nach Stephen Covey. Er erzählt die Geschichte eines Mannes, der im Wald mit sehr viel Anstrengung eine Menge Bäume fällt mit einer stumpfen Säge. Da kommt ein anderer Mann vorbei und sagt: „Schärf doch die Säge erstmal, dann geht es schneller und leichter.“ Da antwortet der Mann: „Geht nicht, keine Zeit, ich muss noch so viele Bäume fällen.“ Und macht gehetzt weiter.

Gerade im pädagogischen Beruf und mit eigenen Kindern habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sehr wirkungsvoll ist, die Säge zu schärfen – und oft aber auch am Schwierigsten, weil wir mit großen Herausforderungen und viel Stress umgehen müssen. Erzieher*in ist ein sehr anspruchsvoller und anstrengender Beruf. Meistens sind die Gruppengrößen überfordernd, der Betreuungsschlüssel unangemessen und der Verdienst zu niedrig. Die Säge zu schärfen ist dann ein noch größerer Kraftakt, weil ich vielleicht denke: „Was soll ich denn noch alles tun?“ Und trotzdem kann ich entscheiden, einen Schritt zurückzutreten, um die Gesamtsituation von außen zu betrachten und mir die Zeit nehmen, die Säge zu schärfen – nämlich meine innere Haltung und mein Verhalten zu hinterfragen und im nächsten Schritt zu verändern. Damit ich immer wieder gestärkt und mit geschärftem Werkzeug (denn im pädagogischen Beruf sind wir selbst ja unser Werkzeug) an die Arbeit gehen kann.

Die Frage ist ja auch, in welcher Gesellschaft wollen wir leben? Welche Person will ich sein? Wofür will ich dieses Leben nutzen? Und diese Frage ist im Moment eine der dringlichsten in Anbetracht von Krisenherden und Rechtspopulismus. Herbert Renz-Polster stellt in seinem neuen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ den Zusammenhang her zwischen einem bestimmten autoritären Erziehungsstil und der Anfälligkeit für populistische Botschaften. Wie wollen wir mit Kindern, Jugendlichen und aber auch mit anderen Erwachsenen umgehen? Wie wollen wir, dass Kinder und Jugendliche sich später als Erwachsene fühlen und wie sie sich verhalten? Kinder sind die Gesellschaft von morgen. Sie sind die Zukunft. Wir alle können etwas dazu beitragen, dass sich Gesellschaft verändert. Gerade in diesen Zeiten wird es immer wichtiger, die Komfortzone zu verlassen und es anders zu machen. Und das können wir tun – beruflich, mit Kollegen und Kolleginnen, Chef und Angestellten, mit den Kindern, wir können die Kinder untereinander unterstützen, mit den Eltern und natürlich auch mit unseren eigenen Kindern.

Biografischer Bezug
Und wenn ich von biografischer Prägung spreche und davon, dass es (gerade im pädagogischen Beruf) wertvoll ist, einen Blick darauf zu werfen, dann fange ich bei mir selbst an. Ich habe meine Kindheit in den 70er, 80er Jahren in einer Kleinstadt in Hessen verbracht. Eine Zeit, in der in Abgrenzung zur autoritären Erziehung zwar viele neue Konzepte entstanden und weiter entwickelt wurden, in der die Erziehung in den meisten Familien dennoch maßgeblich autoritär ablief. Das Schlagen von Kindern z.B. wurde in Deutschland erst im Jahr 2000 gesetzlich verboten. In der autoritären Erziehung gaben die Eltern vor, was richtig und was falsch ist, was gut und was böse und nach dieser Norm mussten sich die Kindern richten. Sonst gab es Strafen. So auch bei mir. Alles Verhalten, das von der vorgegebenen Norm abwich, war komisch oder schlecht. Der Raum für Annahme des „Anderen“ war sehr gering. Heute würde ich sagen, ich wurde zusammengefaltet und in eine Schublade gesteckt, in der es sehr eng war. Ich habe lange gebraucht, um mich aus dieser Schublade herauszuarbeiten und bin noch immer dabei.

In der Folge habe ich mich zu oft am Außen orientiert, habe nach Anerkennung gesucht, u.a. im Schauspielberuf. Und ich sehe all die angespannten Menschen, die im Erwachsenenalter diesen Verlust, sich nicht angenommen gefühlt zu haben, ausgleichen müssen, indem sie sich besonders anstrengen, etwas zu erreichen. Nach und nach lerne ich, mich an mir selbst zu orientieren. Dem zu trauen, was ich fühle und für richtig halte. Das zu tun, was ich wirklich tun will – auf meine Weise.

Ich habe den Schauspielberuf aufgegeben, weil ich keinen Sinn mehr darin gesehen habe. Ich habe angefangen, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten und bin dabei völlig ins kalte Wasser gesprungen. Und als ich 2017 die Idee und den Wunsch hatte, mit Eltern zu arbeiten, da hat mir eine innere Stimme gesagt: „Das reicht ja jetzt auch mal, was du da machst. Und kannst du das überhaupt? Was willst du denn noch alles machen?“ Und trotzdem habe ich nach einigem Ringen die Entscheidung getroffen, es zu tun.

Dieser Weg, ein freier Mensch zu werden ist noch nicht zu Ende gegangen. Er war oft steinig und mühsam, ich habe Ablehnung erfahren und Herabsetzung. Und gleichzeitig ist dieser Weg eine unglaubliche Bereicherung. Ich habe die schönsten Erfahrungen gemacht und die wunderbarsten Menschen kennengelernt, die mich bestärkt und bereichert haben.

Marionettenspieler*innen und Tyrannenkinder
Ich bin der Überzeugung, dass wir ohne Selbstreflexion über die eigene Sozialisierung und unser heute daraus resultierendes Handeln, es viel schwerer haben, denen uns anvertrauten Kinder ihren Weg in die Freiheit zu ermöglichen. Und je nachdem, wie wir aufgewachsen sind, ist das schwieriger oder einfacher.

Schon im Grundgesetz in Artikel 2 steht: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt“ und „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“.

Was bedeutet das konkret? Wie werden Kinder zu freien Menschen? Zu freien Menschen, die nicht die Freiheit der anderen einschränken? Hier komme ich wieder zu den Erziehungsstilen zurück. Früher wurden fast alle Kinder autoritär erzogen. Ihre Freiheit wurde massiv eingeschränkt. Es gab eine Norm, die der Eltern, Lehrer*innen und Erzieher*innen – die der Erwachsenen. Was Kinder wollten oder dachten, spielte keine Rolle. Wer sie selbst als Mensch sind, interessierte wenig. Sie wurden nicht als vollwertige Wesen wahr- und ernstgenommen. Alles drehte sich um die Erwachsenenwelt. Von Kindern wurde verlangt, dass sie sich anpassen und gehorchen. Erziehung basierte auf Macht. Auf der Macht, die Erwachsene Kindern gegenüber immer haben. Weil Kinder abhängig von deren Fürsorge und Liebe sind.

Die rein autoritäre Erziehung finden wir in Deutschland heute eher selten. Dennoch nutzen viele Erwachsene weiterhin ihre Macht, um Kinder in ihrem Sinne zu erziehen. Ich habe genau hingeschaut und dieses Zusammenspiel mal an extremen Fällen beobachtet. Da kam es mir so vor, als würden Erwachsene den Kindern manchmal am liebsten Fäden um die Gliedmaßen binden, um sie wie Marionetten stellvertretend alles so tun und sagen zu lassen, wie sie es für richtig halten. Als ob sie es nicht aushalten, dass die Kinder abgetrennt von ihnen als Individuum existieren und frei sind. Als Individuum, das vielleicht ganz anders ist als sie selbst, das Dinge auf eine Weise tut, wie sie es selbst nicht tun würden, Dinge sagt, die sie selbst nicht sagen würden, handelt, wie sie selbst nicht handeln würden.

Wenn ich ein Kind freilasse, laufe ich Gefahr, die Kontrolle zu verlieren. Und dieses Gefühl kenne ich nur zu gut – aus meiner Arbeit damals an der Hauptschule. Ich hatte den Eindruck, dass mir alles entgleitet. Und das fühlt sich nicht gut an. Das bildliche Festbinden und Steuern soll diese Angst in Zaum halten. Doch das kann nicht die Lösung sein! Wenn Kinder mit Erwachsenen zusammenleben, die sie durch das Ausüben von Macht manipulieren und steuern, dann versuchen diese Kinder, alles „richtig“ zu machen, die Erwartungen zu erfüllen und verlieren nach und nach ihre Freiheit und ihr wahres Selbst.

Als ich mal mit meiner Familie im Urlaub am Strand war, da hat mein Sohn sich an mein Bein gehängt und wollte verhindern, dass ich weiterlaufe. Er war über irgendetwas wütend. Da hat mich eine Frau gefragt: „Na, wer gewinnt?“ Na, wer gewinnt wohl? Es gewinnen doch wohl immer wir Erwachsenen – wenn wir es wollen. Wir haben die Macht! Vor allen Dingen, wenn die Kinder noch klein sind. Ich habe der Frau geantwortet: „Es geht hier nicht ums Gewinnen.“ Das war gar nicht so leicht mit einem schreienden Kind am Bein und gefühlt hundert Blicken, in denen die Frage lag: „Was wird sie tun?“ Wenn eine gewinnt, gibt es immer auch einen Verlierer. Im Zusammenleben mit Kindern gibt es auf lange Sicht zwei Verlierer, weil wir die Beziehung zum Kind verlieren. Die Frage ist also: Geht es uns ums Gewinnen? Wollen wir unsere Macht nutzen? Oder wollen wir sie loslassen und einen anderen Weg einschlagen?

Jetzt könnte jemand sagen: „Ich will doch aber auch nicht, dass mein Kind gewinnt, dann tanzt es mir irgendwann auf der Nase rum.“ Richtig! Wenn wir im Gewinner-Verlierer Modus sind und wir das Kind immer gewinnen lassen, dann gibt es in der Gruppe keine Führung und keine Person, die die Verantwortung dafür übernimmt, dass es allen Mitgliedern gut geht. Das ist auch sehr schädlich für das Kind. Wir geben ihm dann die Verantwortung für eine gelingende Beziehung. Diese Verantwortung darf und kann ein Kind niemals tragen. Wenn die Erwachsenen als Gegenreaktion zur autoritären Erziehung ihrem Wunsch nach einem partnerschaftlichen Verhältnis zum Kind nachgeben, dann führt das zu einer Überforderung der Kinder. Und die Erwachsenen oft an den Rand der Erschöpfung, weil Kinder soziale Fähigkeiten wie Rücksichtnahme und Empathie nicht ausreichend entwickeln können.

Diese Gegenbewegung zum autoritären Stil (z.B. der Laisser-faire-Erziehungsstil) resultiert häufig aus dem Wunsch, es nicht so machen zu wollen, wie ich selbst als Kind erzogen wurde. Reflektiere ich das nicht, dann falle ich möglicherweise ins andere Extrem und gebe die Führung an das Kind ab.

Bei der einen Variante wollen Erwachsene die Kinder formen, klein halten und kontrollieren (die Marionettenspieler*innen). Die Kinder sind unfrei. Bei der anderen Variante übernehmen die Erwachsenen keine Verantwortung. Das ist Freiheit ohne Führung. Und dann kann es passieren, dass Kinder sogenannte „Tyrannen-Kinder“ werden. Dieser Begriff scheint sehr in Mode, wir hören und lesen ihn überall. Diese Kinder schränken dann massiv die Freiheit anderer ein.

Ich denke, wir dürfen Kinder nicht als „Tyrannen“ bezeichnen, weil wir es versäumt haben, die Verantwortung und Führung zu übernehmen. Sogenannte „Tyrannen-Kinder“ fühlen sich nicht gesehen, nicht geliebt und sehr orientierungslos. Die Bezeichnung Tyrann klingt abwertend und gibt dem Kind die Verantwortung. Ein Tyrann übt Macht über andere in einem System aus. Deswegen können Eltern und andere Erwachsene Tyrannen sein, weil sie die Macht haben – niemals das Kind. Das Kind entscheidet sich bei den erwachsenen Bezugspersonen immer für den Weg, mit dem es am besten überleben kann. Wenn es ein Verantwortungsvakuum gibt, dann geht das Kind rein. Und kann diese Verantwortung NATÜRLICH nicht konstruktiv übernehmen. Erwachsene müssen dies tun und diese IMMER bei sich suchen! Vermeintliche Tyrannenkinder sind Spiegel ihrer Eltern und anderer Erwachsener, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.

Das klingt für manche jetzt vielleicht krass und kann als Vorwurf verstanden werden. Ich habe selbst ein Kind, dessen Verhalten nach außen oft dem Tyrannenverhalten gleicht oder glich. Ich erzähle davon später. Deswegen ist mir natürlich auch bewusst, dass jedes Kind auf äußere Umstände und auf das Verhalten der Vertrauenspersonen anders reagiert. Meine Tochter hat dieselben Eltern und war schon immer sehr vernünftig und kooperativ. Ich musste mich dem Schmerz stellen, hinzuschauen, was das Verhalten meines Sohnes mit mir und mit unseren Lebensumständen zu tun hat und dafür die volle Verantwortung übernehmen.

Liebevolle Führung – Kinder in die Freiheit begleiten
Was ist denn aber dann, wenn es kein Gewinnen und Verlieren gibt? Dann muss an die Stelle etwas anderes treten. Ich bin der festen Überzeugung, dass es einen dritten Weg gibt, dass Kinder ein Maximum an Empathie und gleichzeitig eine klare Führung brauchen. Wenn wir unsere Macht als erwachsene Bezugspersonen loslassen, dann können wir zu natürlicher Autorität und zu einer engen Beziehung zu unseren Kindern finden.

Die Sache mit der Macht löst in meinen Eltern-Workshops anfänglich häufig große Angst aus und wirft die Frage auf: „Aber was passiert denn, wenn ich meine Macht aufgebe? Müssen wir unsere Kinder nicht „erziehen“, ihnen Dinge beibringen, damit sie später in der Gesellschaft zurechtkommen?“ Natürlich müssen Kinder Dinge lernen, damit sie im Leben zurechtkommen. Wir kommen mit viel Weisheit, aber ohne Erfahrung auf die Welt. Auch Empathie und Rücksicht müssen wir lernen. Das kann bis zum 6., 7. Lebensjahr dauern. Babys sind im Überlebensmodus, das ist der pure Egoismus. Sonst wären wir schon lange ausgestorben.

Die Frage ist: WIE lernen Kinder Dinge, die für ihr Leben wichtig sind? Da müssen wir im Grunde nur auf uns selbst schauen. Wir entwickeln uns am besten weiter in einer wertschätzenden Umgebung, in der an das Gute in uns geglaubt wird, in der wir für Fehler nicht bestraft und für unerwünschtes Verhalten nicht bewertet werden. In der wir wissen, dass es den anderen Menschen darum geht, dass wir zu unserem eigenen Potential finden und nicht darum, ihren Erwartungen zu entsprechen. Wo wir mit Menschen zusammen sind, die sich selbst kennen und sich in ihrer Persönlichkeit, ihren Grenzen und Bedürfnissen authentisch zeigen.

Wenn mein Partner mir z.B. mitteilt, dass er wirklich resigniert und erschöpft ist, wenn ich die Küche jedes Mal wieder in einen Saustall verwandele, wenn er grade aufgeräumt hat, dann motiviert mich das um einiges mehr, die Küche wieder in Ordnung zu bringen, auch wenn mir selbst das nicht so wichtig ist, als wenn er sagen würde: „Wie oft soll ich dir das noch sagen? Wenn du nicht sofort aufräumst, dann gehe ich heute Abend nicht mit dir ins Kino.“

Jetzt gibt es natürlich einen Unterschied zwischen dem Zusammenleben von Erwachsenen und dem von Erwachsenen mit Kindern. Mit Kindern können (und sollten) wir gleichwürdig zusammenleben – nicht aber gleichberechtigt. Den Begriff der Gleichwürdigkeit hat der Familientherapeut Jesper Juul erfunden, um zu beschreiben, welche Beziehungsqualität in der Erwachsenen-Kind Beziehung es braucht, um destruktive Beziehungen ins Konstruktive zu wandeln: „Diese Qualität war zunächst schwer zu konkretisieren und in den Griff zu bekommen“ sagt er, „weil sie sich „zwischen den Zeilen“ abspielte –, im zwischenmenschlichen Prozess.“

Nach Jesper Juul bedeutet Gleichwürdigkeit „sowohl »von gleichem Wert« (als Mensch) als auch »mit demselben Respekt gegenüber der persönlichen Würde und Integrität des Partners. In einer gleichwürdigen Beziehung werden Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner gleich ernst genommen und nicht mit dem Hinweis auf Geschlecht, Alter oder Behinderung abgetan oder ignoriert. Gleichwürdigkeit wird damit dem fundamentalen Bedürfnis aller Menschen gerecht, gesehen, gehört und als Individuum ernst genommen zu werden.“

Den dritten Weg zu gehen bedeutet, dass WIR als Erwachsene die Führung übernehmen, ohne EINE Norm, ein RICHTIG oder FALSCH vorzugeben. Es bedeutet NICHT: Ich mache dich zu dem Menschen, den ICH für richtig halte. Es bedeutet auch NICHT: wir haben die gleichen Rechte und Pflichten, es gibt keinen Unterschied. Sondern: Wir begegnen uns auf Augenhöhe und ICH übernehme die Verantwortung dafür, dass unsere Beziehung gelingt. Dazu werde ich auch bereit sein, Entscheidungen zu treffen, die das Kind traurig oder sauer machen. Weil ich das langfristige Ziel im Auge habe und weil ich den Überblick und die Erfahrung besitze. Ich werde auf diesem Weg Fehler machen, die ich zugeben darf, weil ich nicht unfehlbar sein muss. Das Kind kann so lernen, selbst auch Fehler machen zu dürfen.

Am meisten lernen Kinder ohnehin durch uns als Vorbild und nicht, indem wir sie erziehen, also ihnen sagen, wie sie sein sollten. Wenn ich ein Kind bestrafe, meine Macht ausübe, dann darf ich mich nicht wundern, wenn das Kind auch Macht über Schwächere ausüben wird, sie ärgert, schlägt, oder mobbt. Diese Logik finde ich sehr perfide, mit bestimmten Methoden ein Kind davon abbringen zu wollen, genau diese Methoden selbst anzuwenden. Das entspricht für mich dem Bild vom schlagenden Vater oder der schlagenden Mutter, die dabei schreit: „Du sollst andere Kinder nicht schlagen!“

Innere Haltung – Perspektivwechsel
Gleichwürdige Führung bedeutet vor allen Dingen, zu wissen, wer ich selbst bin und wofür ich stehe und das klar vorzuleben, zu zeigen und zu äußern. Und gleichzeitig den anderen im Anderssein zu sehen und anzunehmen, also mit ihm in Beziehung zu treten. Damit bewegen wir uns in einem anderen System, als in dem Machtsystem, in dem es Richtig und Falsch, Gewinner und Verlierer gibt. Hierfür müssen wir einen Haltungswechsel vollziehen, uns von alten Mustern lösen, Vertrautes aufgeben und uns auf Neues einlassen. Wir müssen der Macht unserer eigenen Persönlichkeit vertrauen (nicht der eines Systems – Familie, Schule, Kita) und darauf, dass unsere natürliche Autorität auf die Kinder großen Eindruck machen wird.

Bei der Frage, wie können ich und die anderen in der Gruppe das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit leben, geht es in erster Linie um die unterschiedlichen Bedürfnisse und Grenzen aller Beteiligten. An dieser Stelle finde ich es wichtig zu betonen, dass die Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen per se sehr unterschiedlich sind. Wie oft prallen bei uns Erwachsenen und Kindern zwei Welten aufeinander? Kinder wollen die Dinge in Ruhe machen und sie nicht „durchziehen“. Auf dem Weg der Erledigung sehen sie tausend andere spannende Dinge, denen sie sich widmen möchten. Gleichzeitig haben wir es eilig und denken, sich anzuziehen dauert doch nur zwei Minuten, wenn man es einfach schnell erledigt. Kinder wollen Nähe, wenn wir Rückzug brauchen, sie wollen oft lauter spielen, als wir es vertragen können und Kindern ist Ordnung in der Regel weitaus weniger wichtig, als uns Erwachsenen. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Natürlich müssen Kinder die Dinge manchmal (oft sogar) so machen, wie wir sie in unserer Erwachsenen-Welt brauchen. Ich finde es aber wichtig, anzuerkennen, dass dies nur eine mögliche Perspektive ist. Regelmäßig meine Erwachsenen-Perspektive zu verlassen, um die der Kinder einzunehmen, mir das regelrecht zu verordnen, nimmt bei mir viel Druck, Anspruch und Wut aus der Beziehung zu meinen Kindern. Ich sehe sie mit ganz anderen Augen und fühle mich ihnen um einiges näher. Manchmal sehe ich meinem Sohn zu, muss schmunzeln und denke: „In welcher aufregenden Dino-Welt bist du grade, während ich will, dass du deine langweiligen Socken anziehst?“

So gibt es diverse Situationen am Tag, in denen wir diesen Perspektivwechsel vollziehen können: Bei einem Kleinkind z.B., das sich sträubt bei 22 Grad Raumtemperatur auf dem Boden liegend in seinen Winteranzug gesteckt zu werden, bei kleinen Kindern, die im Restaurant nicht zwei Stunden still am Tisch sitzen wollen und Erwachsenen-Gesprächen lauschen. Und neulich hatte ich eine Situation mit meinem Sohn. Ich habe mich mit meiner Tochter unterhalten und mein Sohn wollte mir auch was erzählen. Ich habe ihm gesagt, er soll bitte kurz warten, aber er wollte unbedingt gleich reden und hat mir erklärt: „Mama, wenn ich rede, musst du immer SOFORT zuhören.“ Ich hab ihm gesagt, „nein, das mach ich nicht. Ich möchte immer erstmal zu Ende reden, ob ich mich grade mit dir unterhalte, oder mit jemand anderem.“ Er wurde wütend und hat total drauf bestanden, dass das bei ihm etwas anderes ist und er immer sofort angehört werden muss. Da hab ich ihn gefragt, warum das denn so ist. Und er hat mir ziemlich verzweifelt mitgeteilt: „Mama, weil ich doch erst fünf bin, ich bin der Kleinste und ich kann mir doch gar nicht so lange merken, was ich sagen wollte und bis ich dann dran bin, hab ich es doch vergessen.“ Da hab ich gedacht: Verstehe! Ja, das würde mich auch ziemlich wütend machen.

Es geht hier um Akzeptanz. Um die Akzeptanz, dass Kinder eine andere Perspektive haben, als wir Erwachsenen. Das bedeutet nicht, dass wir uns immer nach den Kindern richten und dass wir nicht unsere Grenzen und Bedürfnisse deutlich machen dürfen. Dass ich jetzt immer meine Gespräche unterbreche, wenn mein Sohn etwas sagen möchte. Aber unsere Annahme und unser Verständnis für das kindliche Verhalten werden wachsen. Wir werden vielleicht Lösungen und Mittelwege finden (meinem Sohn hab ich vorgeschlagen, mir ein Stichwort zu sagen, worum es geht und ich erinnere ihn dann daran). Allein, dass ich ihn in seiner Not gesehen habe und ihn nicht als unhöflich bewertet habe, hat dazu geführt, dass er viel geduldiger warten kann und es auch nicht so schlimm ist, wenn er mal was vergisst. Dann tröste ich ihn.

Wir werden durch diesen Perspektivwechsel nicht mehr so schnell wütend, wenn Kinder sich nicht wie kleine Erwachsene benehmen. Dann können wir die Dinge, die uns wirklich wichtig sind, mit einer größeren Klarheit und Ruhe kommunizieren und wir können akzeptieren, dass es normal ist, dass wir Manches 1000 Mal sagen müssen, bis es funktioniert und dass wir einige Dinge so annehmen müssen, wie sie sind.

Es geht darum zu verstehen, dass wir in verschiedenen Welten leben, dass wir als Erwachsene von Kindern sehr viel erwarten. Und zu sehen, wie unglaublich häufig Kinder kooperieren. Wenn wir mal den Alltag von Kindern durchgehen und sehen, wie oft sie gesagt bekommen, was sie zu tun und zu lassen haben und bis zu welchem erstaunlichen Grad sie in der Lage sind, das auszuhalten, dann kann ich nur sagen: In uns würde sich mit ziemlicher Sicherheit unser Autonomiebedürfnis gegen so viel Fremdbestimmung sträuben.

Kinder sollen sich in der Gesellschaft ständig an Rahmenbedingungen anpassen, für die sie nicht gemacht sind. Rücksicht bedeutet für die meisten, dass die Kinder Rücksicht auf die Bedürfnisse der Erwachsenen nehmen sollen. Auch an dieser Stelle lohnt es sich, die Perspektive zu wechseln. Wie würde es denn aussehen, wenn wir Erwachsenen ständig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder nehmen sollten? Wir wären irgendwann ziemlich überfordert und wütend. Warum also soll Rücksichtnahme bedeuten, sich an den Bedürfnissen der Erwachsenen zu orientieren? Rücksichtname ist keine Einbahnstraße, sie muss von beiden Seiten kommen – gleichermaßen.

Natürlich ist es wichtig, dass Kinder lernen Rücksicht zu nehmen und mit gesellschaftlichen Konventionen umzugehen und dass jeder Mensch Grenzen hat, die respektiert werden sollen. Doch das funktioniert eben nicht über Strenge und Ermahnen, sondern dadurch, dass sie uns als Vorbild erleben. Rücksichtnahme lernt ein Kind am besten, wenn es selbst Rücksicht erfahren hat.

Grenzen setzen – Kooperation statt Gehorsam
Ausgehend von der Möglichkeit des Perspektivwechsels und der Empathie kann ich viel leichter erspüren, was bei Irritationen und Wut wirklich mein dahinter liegendes Bedürfnis ist und was über meine Grenze geht. Und dies klar und deutlich kommunizieren. Das kann eine ganz persönliche Sache sein (dass ich nicht mag, wenn geschmatzt wird), bis hin zu Regeln und Absprachen, die es in der Kita braucht, damit kein Chaos ausbricht und nicht die ganze Arbeit an den Erzieher*innen hängenbleibt (z.B. jedes Kind räumt den eigenen Teller ab, räumt Spielzeug wieder auf), oder auch Werte, die ich vertrete (z.B. darüber, in welchem Ton miteinander gesprochen wird, dass ich nicht will, dass andere herabgesetzt oder verletzt werden). Mit dieser Offenheit und persönlichen Klarheit ist die Chance, dass die Kinder in diesen Momenten mit uns kooperieren viel größer.

Im Zusammenleben mit anderen bewegen wir uns immer im Spannungsfeld: Was tut mir gut (was ist mein Bedürfnis?) und was will ich für die Gemeinschaft tun? Das geht uns Erwachsenen so, wie auch den Kindern. Wenn zu wenig von unseren Bedürfnissen erfüllt sind, wenn wir zu oft über unsere Grenze gehen, dann geht es uns schlecht. Kinder wollen kooperieren und etwas für die Gemeinschaft tun, das geht aber nur bis zu einem gewissen Maß. Kinder, die nicht kooperieren, haben immer einen Grund. Sie mussten zu oft über ihre eigene Grenze gehen, ihnen geht es nicht gut.

Die Frage ist, wie wir in solchen Momenten mit dem unkooperativen Verhalten von Kindern umgehen wollen? Wenn alles reibungslos läuft, wenn Kinder fleißig, hilfsbereit und kooperativ sind, dann stellen wir uns die Frage nach Veränderung nicht unbedingt. Wie aber handeln wir bei Störungen, Konflikten und Aggressionen? Haben Kinder ihre Grenze erreicht und boykottieren die Anpassung an unsere Regeln, geraten wir häufig in Stress und werden wütend. Wo aber wird dieses NEIN, dieses Zeigen der inneren Grenze, weniger Ernst genommen, als bei Kindern in Schule, Kita und Familie? Das wundert mich, denn wir wollen doch, dass sie später Erwachsene sind, die ihre Grenzen kennen und die einstehen für sich und für andere.

(Biografischer) Einschub Aggression
Mit dem Thema Aggression habe ich mich eingehend beschäftigt, aus beruflichen, aber vor allen Dingen auch aus privaten Gründen. Deswegen kommt hierzu jetzt ein biografischer Einschub. Mein Sohn war sehr oft sehr wütend. Wenn etwas anders lief, als er es wollte, dann ist er ausgeflippt: hat geweint, geschrien, geschlagen, hat Gegenstände geworfen, gerne auch mal die Küchenstühle. Er ließ sich nicht beruhigen und hat seine Wut dann gegen mich gerichtet. Das war für mich die größte Herausforderung in Sachen Annahme, weil es Momente gab, in denen ich einfach nur wollte, dass „das“ aufhört! Gleichzeitig wusste ich: Jetzt kommt es auf dich an. Wenn du ihn jetzt verlierst, ist er verloren. Also habe ich mich bemüht, meinen Sohn in seinen wütendsten Momenten wirklich zu SEHEN. Und ich habe ein sehr verzweifeltes Kind gesehen; was mich im tiefsten Herzen berührt hat. Ich musste es schaffen, den Menschen zu sehen und nicht das wütende Bündel, das still sein soll, weil ich einfach nicht mehr kann.

Ob in der Kita, Schule oder in der Gesellschaft, ich finde es schon erstaunlich, wie oft Kinder nur aufgrund ihres aggressiven Verhaltens beurteilt und behandelt werden, anstatt das Kind mal zu fragen, warum es so wütend ist. Ich habe neulich den Spielfilm „Systemsprenger“ von der Regisseurin Nora Fingscheidt gesehen. Er handelt von einem Mädchen, das von einer Pflegefamilie in die andere geschoben wird, weil es keine mit ihr schafft. Sie rastet regelmäßig komplett aus. Auch in einem „Tatort-Krimi“ waren sogenannte „Systemsprenger-Kinder“ das Thema. Diese Folge hat ebenso den Umgang mit diesen schwer traumatisierten Kindern kritisiert, die in Zimmer eingesperrt und zum Teil sogar ins europäische Ausland in Pflegefamilien abgeschoben werden. Das ist für mich eine Opfer-Täter-Umkehrung. Diese Kinder waren Opfer schlimmster Gewalt und Vernachlässigung. Von den Erwachsenen, die ihnen eigentlich helfen sollten erfahren sie nun wieder Gewalt (Einsperren und Anschreien ist Gewalt) und bekommen zu hören, dass man ja jetzt auch wirklich alles versucht hat, ihnen viele Chancen gegeben, aber dass das wohl alles nichts hilft und es mit ihnen aussichtlos ist und es irgendwann auch mal reicht. Also wird wieder auf autoritäre Methoden zurück gegriffen.

Gerade im Umgang mit Wut wird Kindern so viel Ablehnung entgegen gebracht. Was geht in mir als Mensch vor, wenn ich wütend bin und die Menschen, die ich am meisten liebe, wollen mich so nicht haben? Ich spalte diesen Teil ab und begrabe ihn. Ich verliere ein Stück meiner Persönlichkeit, meiner Integrität. Darunter versteht Jesper Juul die Individualität und das Autonomiebedürfnis eines Menschen. Es ist ein Sammelbegriff „für die psychische und physische Existenz des Kindes; also für seine Selbstständigkeit, Unverletzbarkeit und Eigenart.“ Neben ganz klar nicht akzeptierten Verletzungen wie körperlicher Gewalt sind auch Schimpfen und Strafen Formen, die Integrität zu verletzen.

Wir Erwachsenen sind verantwortlich herauszufinden, was das Kind braucht. Wenn ein Kind wütend ist, gibt es Gründe dafür. Die Frage ist doch: Wo kommt das Kind her, was hat es erlebt? Wenn nicht wir diese Verantwortung übernehmen, wer denn dann? Ich will in keiner Gesellschaft leben, in der wütende Kinder weggesperrt, abgeschoben und bestraft werden.

Ich kann anfangen, mich selbst zu zeigen, wie es mir mit dem aggressiven Verhalten geht, meine Grenzen kommunizieren. Ich habe versucht, meinem Sohn zu zeigen und zu sagen, wie es mir geht, wenn er was kaputt gemacht oder mir oder jemand anderem wehgetan hat. Mal war ich stinkwütend (weil ich meine Küchenstühle echt liebe und meine körperliche Unversehrtheit auch), mal verzweifelt, weil ich nicht mehr wusste, was ich tun soll, mal hat es mir weh getan, weil mir das andere Kind leid getan hat, mal war ich zutiefst traurig, weil ich ihm nicht besser helfen konnte. Grundsätzlich bin ich davon ausgegangen, dass ihm etwas fehlt, was er nicht bekommt. Sonst wäre er nicht so wütend. Und dass es meine Aufgabe ist, herauszufinden, was das ist.

Ich will damit nicht sagen, dass das leicht ist. Ganz und gar nicht. Es ist ein Kraftakt. Es ist zum Verzweifeln. Es scheint manchmal aussichtslos. Aber wo soll der andere Weg hinführen, wo Kinder wegen ihrer Emotionen bestraft, bewertet und weggesperrt werden? Es wird versucht, die Aggression weg zu erziehen oder weg zu bestrafen: als ob das tatsächlich funktionieren könnte – Gefühle zum Verschwinden zu bringen. Das Kind wird gedemütigt, fühlt sich unverstanden, ohnmächtig und die Aggression verstärkt sich. Im schlimmsten Fall hört die nach außen gerichtete Wut irgendwann auf, weil einen ja sowieso keiner hört und versteht und sie richtet sich nach innen. Diese Kinder fangen dann an, sich selbst zu hassen und sich Schaden zuzufügen.

Donald W. Winnicott schreibt in seinem Buch: „Aggression – Versagen der Umwelt und antisoziale Tendenz“:

„Die antisoziale Tendenz ist ein Hinweis auf Hoffnung. Hoffnungslosigkeit ist das Wesensmerkmal des deprivierten Kindes, das sich natürlich nicht ständig antisozial verhält. In Phasen von Hoffnung jedoch handelt das Kind antisozial.“

Dies soll allen Menschen Mut machen, die Umgang haben mit wütenden Kindern. Dieses Kind hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass jemand herausfinden wird, was ihm fehlt. Wir können ihm zeigen, dass wir den Ruf hören: „Ist da draußen noch jemand, der mich versteht?“ Mein Sohn hat seine Wut tatsächlich zum großen Teil konstruktiv umgewandelt, als ich begonnen habe, ihn darin komplett anzunehmen und herauszufinden, was er braucht, um nicht mehr so wütend zu sein. Es ist eines der größten Geschenke in meinem Leben, das zu beobachten.

Grenzen setzen – Kooperation statt Gehorsam (Fortsetzung)
Kommen wir zurück zum Thema „Grenzen“. Es wird oft darüber gesprochen und geschrieben, dass Kinder wieder mehr Grenzen brauchen, weil sie den Erwachsenen sonst auf der Nase rumtanzen und alles nach ihrem Willen läuft und weil sie sonst keine sozialen Wesen werden. Wenn ich mir das bildlich vorstelle, was das heißt, einem Kind Grenzen zu setzen, dann stelle ich mir vor, dass ich eine Begrenzung um das Kind ziehe und ihm mitteile, dass es sich innerhalb dieser von mir gesteckten Grenze zu bewegen hat. Dass ICH also weiß, was richtig ist und was falsch und was das Beste für das Kind ist und es ihm aufzeige, damit es das auch lernt. Ich sperre das Kind ein in MEIN Richtig und Falsch und muss MICH und meine Bedürfnisse dadurch nicht zeigen. Ich setze unpersönliche Grenzen, in denen es darum geht, wie MAN etwas macht oder nicht macht. Ich gehe aus dem Kontakt. Ich befinde mich in einer Subjekt-Objekt-Beziehung zum Kind und in keiner Subjekt-Subjekt-Beziehung, in der auch ICH sichtbar werde mit meiner Freude, meiner Angst und meinem Scheitern. Ich kommuniziere nicht auf Augenhöhe, sondern stehe wie eine große Instanz vor einem zu mir aufblickenden Kind. Im Ergebnis fühlt sich das Kind falsch und bekommt das Gefühl suggeriert, dass es sich nach meinen Wünschen ändern muss, weil mit ihm etwas nicht stimmt.

Auf lange Sicht wird das Kind entweder mehr und mehr versuchen, herauszufinden, was ICH will und versuchen, es mir rechtzumachen oder es wird rebellieren. Wie auch immer das Kind reagiert, es wird sich herabgesetzt und verletzt fühlen. Diese Herabsetzung kann in der Form nicht stattfinden mit einer Freundin oder einem Partner, weil die sozialen Machtverhältnisse in erwachsenen Beziehungen andere sind.

Zu dieser Herabsetzung zählt für mich auch die klassische „Auszeit“. Und auch hier stellt sich für mich die Frage nach der Haltung, die hinter meinem Handeln liegt: Nehme ich ein Kind aus einem Spiel raus, weil die anderen sonst in ihrer Freiheit eingeschränkt sind und das Ziel ist, dass die anderen Kinder in Ruhe spielen können? Oder setze ich das Kind raus, weil ich es erziehen will und will, dass es über sein Verhalten nachdenkt und etwas lernt? Und wie denke ich, denkt das Kind eher nach und lernt tatsächlich etwas: Indem es sich gedemütigt fühlt (und rausgeworfen werden und auf einer Extrabank sitzen ist eine Demütigung), oder indem es sieht: Ich sorge für die anderen Kinder und zeige meine Grenzen?

Eine „Auszeit“ verordnen hat immer mit dem Wunsch nach Veränderung beim anderen zu tun. Das Wort impliziert eine Erziehungsmaßnahme. Es geht nicht um die anderen Kinder, die im Spielen gestört werden, es geht nicht um mich, es geht um das Verhalten des störenden Kindes. Und wie ich mich im Detail jeweils verhalte bei den beiden Varianten, sieht nach außen nicht wahnsinnig unterschiedlich aus, weil sich die Qualität, wie ich Jesper Juul schon zitiert habe, eben zwischen den Zeilen abspielt. Es kommt aber ganz anders beim Kind an und macht meiner Meinung nach einen riesen Unterschied in seinem Selbstgefühl und seinem Verhalten. Der Unterschied in der innere Haltung ist: Ich will dich nicht bestrafen und verbessern, sondern ich will mein höher liegendes Ziel umsetzen und zeige meine persönliche Grenze. Ich will nämlich, dass die Kinder in meiner Kita ungestört spielen können.

Bin ich mir also selbst wichtig und will in meinen Grenzen und Bedürfnissen Ernst genommen werden und bin gleichzeitig bereit, dem nachzugehen, wenn sie trotz klarer Kommunikation überschritten werden? Oder gebe ich auf, fühle mich verletzt und sehe als letzte Möglichkeit, das Kind durch meine Macht zu dem Verhalten zu zwingen, das ich haben will?

Jesper Juul sagt sehr treffend: Kinder brauchen keine Grenzen. Sie brauchen Beziehungen zu Menschen, die ihre eigenen Grenzen kennen und für sie einstehen. Im Fall meiner bedrohten Küchenstühle kann ich zu meinem Sohn z.B. sagen: „Hier wird nicht mit Stühlen geworfen. Das macht man nicht. Und wenn du nicht sofort damit aufhörst, musst du in dein Zimmer.“ Oder ich kann sagen: „Ich will nicht, dass die Stühle kaputt gehen, die sind mir wirklich wichtig.“ Und dann kann ich meinem Sohn helfen, andere Möglichkeiten zu finden, seine Wut zu regulieren. In der ersten Variante setze ich meinem Sohn eine Grenze, zeige, dass er sich falsch verhält, bewerte ihn und drohe mit einer Strafe. In der zweiten Variante teile ich ihm meine persönliche Grenze mit. Dazu muss ich mich als Mensch zeigen und kann mich nicht verstecken hinter pädagogischen Verhaltensweisen. Ich kenne eine Familie, da finden es alle in Ordnung, dass der Sohn seine Wut an der Spülmaschine ausagiert, in dem er immer wieder seitlich dagegen tritt. Sie sagen, die ist sowieso alt und verbeult. Ich persönlich würde das nicht wollen, ich hätte Angst, dass die Technik innen kaputt geht, aber so verschieden sind wir eben alle und die Spülmaschine überlebt das schon seit einer ganzen Weile.

Die Verantwortung zu übernehmen bedeutet für mich: Mich selbst zu zeigen, persönlich und klar zu kommunizieren, was ich will und was ich nicht will und es auch wirklich zu meinen, also wahrhaft authentisch zu sein. Authentizität heißt, dass das, was ich denke und fühle übereinstimmt mit dem, was ich sage und wie ich es sage. Um zu mehr Authentizität zu finden ist es hilfreich, meine Gedanken und Gefühle, die ich habe, bevor ich spreche, immer bewusster wahrzunehmen, sie anzunehmen und daraufhin zu überprüfen, ob ich wirklich für mich und meine Bedürfnisse und für das Wohlergehen der Gruppe die Verantwortung übernehme. Alle Gedanken und Gefühle, die dem Kind die Verantwortung geben, können dadurch nach und nach verändert werden. Diese Erkenntnis kann weh tun, weil wir dann Schuld sind, wenn es nicht klappt. Wir müssen dann den Mut aufbringen, Dinge zu verändern und die Kraft, sie anzupacken und umzusetzen. Aber diese Erkenntnis macht uns auch frei, weil wir nicht einem „anstrengenden“ Kind und überhaupt den ganzen schwierigen Umständen ausgeliefert sind, sondern aktiv handeln können.

Immer tiefer in diese Grundhaltung zu finden hat mir geholfen, nicht zu denken, dass mein Sohn doch anders sein müsste und darüber ständig selbst aggressiv zu werden. Es hat mein Selbstmitleid gemindert und es hat verhindert, dass ich meinem Sohn die Schuld in die Schuhe schiebe

Selbstverständlich hatte und habe ich auf meinem Weg auch Momente, in denen ich mir selbst leid tue, Opfer-Momente mit Monologen wie: „Aber was soll ich denn noch alles geben, ich kann ja jetzt schon nicht mehr“ und „Ich hab jetzt alles versucht, ich weiß einfach nicht, was er noch braucht, dann ist es halt so.“ Zum Glück komme ich mir dabei immer schneller selbst auf die Schliche, weil ich versuche, achtsam zu sein und ehrlich zu mir selbst. Und ich lerne, mir meine Opferhaltung zu verzeihen und sie leichter zu nehmen. Denn schließlich sind wir alle nur Menschen.

Dieser Weg ist ein radikaler Weg, wenn wir ihn wirklich durchziehen. Wenn wir nicht zwischen Laisser-Faire und autoritärer Erziehung hin und her schwanken, weil es uns erst zu anstrengend ist, etwas zu verändern und wir die Kinder ja auch einfach mal so sein lassen wollen und dann aber irgendwann wütend werden, weil es über unsere Grenzen geht und harte Maßnahmen ergreifen. Mit diesem Weg begeben wir uns auf eine Reise, auf der wir uns mit uns selbst beschäftigen. Er beinhaltet ein anderes Menschenbild und geht von anderen Voraussetzungen aus, wie innerhalb einer Gemeinschaft miteinander gelebt werden sollte.

Auf diesem Weg gibt es keine Strafen mehr (auch nicht manchmal, auch nicht eine kleine) und keine „schimpfenden“ Erwachsenen. Schimpfen und Ärger bekommen sind Dinge, die nur in einem Machtsystem funktionieren und zwar einseitig. Nicht bei gleichwürdigen Beziehungen, in denen wir uns begegnen. Wir merken an vielen Stellen, wie sehr Kinder das Machtsystem bereits internalisiert haben. Ich finde das so irritierend, wenn Kinder sagen: „Dann schimpft meine Mutter“ oder „dann bekomme ich Ärger“. Warum sagen sie nicht: „Das hasst meine Mutter“, oder „da wird meine Mutter stinksauer“? Wenn mein Kind etwas tun will, von dem es weiß, dass ich das nicht leiden kann, dann will ich nicht, dass es das nicht tut, weil es Angst hat, Ärger zu bekommen, sondern weil es nicht möchte, dass es mir damit schlecht geht.

Es ist also an uns, wieder zu lernen, unsere eigenen Grenzen zu kennen, sie (rechtzeitig) zu spüren und sie klar und persönlich zu kommunizieren, ohne das Kind herabzusetzen. Ich bin dabei auch eine absolute Verfechterin des ICH WILL. Ich habe noch gelernt, dass es heißt ICH MÖCHTE. Und es gibt auch Dinge, die möchte ich, aber es gibt definitiv auch Dinge, die will ich, oder die will ich nicht. Ich denke, manchmal reden und erklären wir zu viel (mich natürlich eingeschlossen) und verlieren dadurch unsere Klarheit und unsere Durchschlagkraft. Wenn ich will, dass mein Kind abends ins Bett geht, weil ich erschöpft bin und Ruhe brauche, dann macht es einen Unterschied, ob ich sage: „Schau mal, es ist doch schon spät und morgen musst du früh raus. Und es ist auch wichtig, dass Kinder in deinem Alter genug Schlaf bekommen. Ich möchte, dass du jetzt mal langsam ins Bett gehst. Ich komm auch gleich nochmal nach dir schauen, ok?“ Oder ob ich sage: „Ich will jetzt nicht mehr mit dir spielen. Ich will meine Ruhe und das Wohnzimmer für mich.“ Das Abends ins Bett bringen ist ein Thema, an dem ich mich selbst eine ganze Weile abgearbeitet habe, um zu dieser Klarheit zu finden. Und um nicht jeden Abend über meine Grenze zu gehen, damit meine Kinder sich ja nicht abgewiesen fühlen. Und Kindern vorzuleben, dass wir in aller Klarheit für unsere Bedürfnisse sorgen, zeigt ihnen, dass sie selbst genau das auch tun dürfen und dass wir in der Lage sind, uns um uns selbst zu kümmern und die Verantwortung für unser Wohlergehen zu übernehmen.

Das langfristige Ziel
Bei der Frage nach dem Umgang mit Kindern sollte es denke ich immer um die Frage gehen: Was ist das langfristige Ziel? Kurzfristig erreichen wir mit dem autoritären Stil vielleicht manchmal schneller unser Ziel, aber zu welchem Preis? Wenn ein Kind sich zu Hause oder in der Kita immer weigert, seine Spielsachen aufzuräumen, ist dann das primäre Ziel, dass es in Zukunft seine Spielsachen aufräumt, oder ist das Ziel, herauszufinden, warum es sie nie aufräumen will? Was ist das übergeordnete Ziel? Das ist doch (hoffentlich), dass das Kind zu einem glücklichen, selbstbewussten und empathischen Erwachsenen wird und nicht zu einem verängstigten und gehorsamen.

Ich will, dass meine Kinder ihre Grenzen kennen und dafür einstehen, dass ihre und auch die Grenzen anderer Menschen nicht überschritten werden. Gehorsame Kinder sind weniger gut in der Lage, für sich selbst zu sorgen und werden eher ausgenutzt. Sie befolgen Befehle, ohne Fragen zu stellen und ohne Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Wo das hinführen kann wissen wir alle. In diesen Zeiten brauchen wir selbstständig denkende, eigenwillige und verantwortungsvolle Individuen.
Es ist unsere Aufgabe, dass die Kinder zu IHREM bestmöglichen Selbst finden und nicht zu UNSERER IDEE ihres bestmöglichen Selbst. Gehe ich von mir selbst aus und spreche von mir, was ich will und was ich nicht will und für was ich einstehe, oder versuche ich ständig das Kind zu ändern und zu korrigieren? Das ist der bildliche Marionettenfaden an den Gliedmaßen der Kinder, verbunden mit dem Wunsch, sie zu steuern. Dann bewerte und manipuliere ich. Und denke ich wirklich, meine Version vom besten Selbst meiner Kinder ist besser als ihre eigene?

An manchen Kindern sehe ich, wie geduckt sie durch die Welt laufen, wie verhalten und unfrei und voller Angst vor der nächsten Kritik und Bewertung sie sich alleine schon bewegen und sprechen. Und manche Kinder sind frei. Wer frei ist dreht vielleicht manchmal auch durch. Ist das die Angst der Marionettenspieler? Was soll schon passieren? Vielleicht waren wir selbst keine freien Kinder? Die Chance ein freier Mensch zu werden hört nie auf. Wir sollten uns fragen, was sind das für ein Schmerz und eine Angst, wenn ich die Freiheit der anderen nicht ertrage? Wir sind doch erwachsen und in der Lage, für uns und unsere Umgebung zu sorgen. Wenn nicht, dann sollten WIR uns weiter entwickeln und etwas dazu lernen. Nämlich JA zu sagen, wenn wir JA meinen und NEIN zu sagen, wenn wir NEIN meinen.

Was wäre wenn…?
Manchmal denke ich, es ist doch so einfach. Warum sprechen wir mit den Kindern zu Hause, in der Kita und in der Schule nicht über das, was in uns vorgeht? Meine Antwort ist: weil wir es nicht gelernt haben, von UNS zu reden, weil wir nicht das Vertrauen haben, dass wir gehört werden, wenn wir unsere Macht nicht ausüben, weil wir Angst haben, uns zu zeigen und dann möglicherweise ausgelacht und nicht Ernst genommen zu werden, weil wir uns oft gar nicht mehr darüber bewusst sind, was wir eigentlich fühlen und dass gerade unsere Grenze übertreten wurde und weil wir nicht wissen, WIE wir unsere Bedürfnisse persönlich kommunizieren sollen.
Wie oft hab ich mich gefragt, wie macht man das jetzt, wie reagiere ich jetzt am besten? Bis ich angefangen habe, wieder auf meine innere Stimme zu hören. In aller Konsequenz. Und mich zu fragen: Sage ich noch JA, wenn alle NEIN sagen, weil ich es als richtig empfinde?

Auch wenn es nicht leicht ist, können wir damit anfangen, es zu üben. Wir machen uns auf eine Reise, bei der es darum geht, innere Stärke zu erlangen und uns und unsere Bedürfnisse anzunehmen. Auf Basis dieser Annahme können wir den Mut aufbringen, auf die Einhaltung unserer Grenzen zu bestehen und die Kraft, darüber zu streiten, ohne Angst, unser Gesicht zu verlieren. Dann kann ich auch laut werden und bestimmt. Und ich kann verletzt sein und Schwäche zeigen. Wenn ich immer wieder zu meiner inneren Stärke zurückkomme, muss ich mich nicht auf Machtspiele einlassen. Dann strahle ich eine große natürliche Autorität aus, die zeigt, dass ich weiß, wer ich bin und was ich will. Dann werde ich Ernst genommen. Wenn ich mich selbst auf diese Art und Weise annehme, wird auch die Annahme für das Verhalten der Kinder wachsen.

Wir können entscheiden, ohne diese Macht mit unseren Kindern zusammen zu leben. Aber mit 100-prozentiger Verantwortung und liebevoller Führung. Führung heißt nicht jemanden an der Leine zu führen. Führen heißt vorgehen und sagen „folgt mir“ – auf eure Weise. Und wenn wir das gut machen, dann werden die Kinder das tun (solange es ihre Integrität nicht verletzt) und dabei nach und nach immer mehr ihre eigenen Wege einschlagen. Erwachsene sagen manchmal, das Kind soll „folgen“ oder es „folgt“ nicht. Damit meinen sie aber eigentlich gehorchen. Freiwillig folgen, wenn ich als Vorbild vorgehe, gibt Orientierung. Das tut der Leitwolf und das Rudel folgt gerne. Die Wölfe sind gute Vorbilder in Sachen Führung, weil sie in der Regel als Duo führen (Mutter und Vater). Und es führt der Wolf, der in einer konkreten Situation die größte Erfahrung und das beste Know-how hat. Das kann auch mal ein Jungwolf sein. Generell lehren die Wölfe ihre Kinder früh, auch selbst Verantwortung und Führung zu übernehmen. Und sie stärken das Rudel, in dem sie konkrete Werte wie Kooperation, Vertrauen und Zusammenhalt selbst vorleben.

Wenn wir so leben würden (dass wir auf die Kraft unserer natürlichen Autorität vertrauen und nicht unsere soziale Macht als Erwachsene ausnutzen) – und das ist meine Utopie – dann hätten wir eine andere Welt, ein anderes gesellschaftliches Zusammenleben. Es gäbe mehr Kooperation statt Gehorsam, mehr Autonomie statt Abhängigkeit, mehr Selbstwert statt Selbstzweifel und mehr Gleichwürdigkeit und Beziehung statt Machtverhältnisse.

Gemeinschaften sind am stärksten, wenn jede*r seine/ihre Individualität leben darf. Ein Kind, das weiß, dass seine Bedürfnisse Ernst genommen werden, kann viel eher damit umgehen, sie nicht immer erfüllt zu bekommen, als ein Kind, dem gezeigt wird, dass seine Bedürfnisse falsch oder schlecht sind. Das Kind müsste sich nicht schämen und nicht an anderer Stelle andere herabsetzen, um sich wieder aufzuwerten. Es müsste sich Dinge nicht mit aller Kraft erkämpfen, um nicht zu kurz zu kommen. Es könnte sich selbst als Person Ernst nehmen und aus freien Stücken einen wichtigen Teil zum gesellschaftlichen Leben beitragen.

Wir ALLE können den Unterschied machen. Wir können Gesellschaft verändern mit der Art, in der wir mit Kindern umgehen. Gerald Hüther schreibt davon, dass es nur sehr wenige Kinder gibt, denen das Glück zuteil wurde, wirklich bedingungslos geliebt zu werden. Zu schaffen, dass Kinder sich bedingungslos geliebt fühlen, und dass sie wissen, dass wir immer und jederzeit dafür die Verantwortung übernehmen ist eines der größten Dinge, die wir weitergeben können!

Wir können alle Fäden durchscheiden – die an den Kindern und die an uns. Ich denke, dass das Sprechen und Handeln nach dem Eigenen der erste Schritt zur Befreiung ist von allen Fäden, an denen wir selbst hängen und der erste Schritt hin zur Selbstermächtigung. Auf diesem Weg machen wir auch Fehler und bekommen was ab, aber wir sind uns selbst treu und schützen unsere Integrität. Und dann können wir als wir selbst mutig loslaufen und darauf vertrauen, dass die Kinder uns auf ihre Weise folgen werden, um dann später ihren ganz eigenen Weg weiterzugehen. Das ist eine sehr große Aufgabe – und eine sehr sehr erfüllende. Wir können es schaffen, dass Kinder mit dieser inneren Stärke weiter in der Gesellschaft wirken. Und am Ende des Lebens sagt sicher niemand: „Ich hätte mehr auf die anderen hören, es mehr den anderen recht machen sollen.“ Sondern der Mensch bereut eher und denkt: „Ich hätte mehr auf mein Herz hören und mehr meinem Eigenen folgen sollen.“

Aus diesem Grund lese ich zum Abschluss einen Brief des Dichters Jorge Luis Borges vor, der mich immer wieder bestärkt, HIER und JETZT meine eigenen Entscheidungen zu treffen und manchmal wieder mehr so zu leben, wie Kinder es tun:

„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben,
würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben, würde mehr riskieren.
Ich würde mehr reisen, mehr Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich würde an mehr Orte gehen, wo ich vorher noch nie war.
Ich würde mehr Eis essen und weniger dicke Bohnen.
Ich würde mehr echte Probleme als eingebildete haben.
Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.
Freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben, nur aus Augenblicken.
Vergiss nicht das Jetzt!
Ich war einer derjenigen, die nirgendwo hingingen ohne ein Thermometer, eine Wärmeflasche, einen Regenschirm und Fallschirm.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich leichter reisen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Ich würde mehr Karussell fahren, mir mehr Sonnenaufgänge ansehen und mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie… ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde.”

Und auch wenn das Gedicht sehr traurig klingt, ich glaube, dass es manchmal hilfreich ist, das jetzige Leben vom Ende her zu denken.


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