Vier Werte als Kompass für unser Familienleben

Vier Werte als Kompass für unser Familienleben

„Wir stehen in jeder Minute, in jeder Stunde und an jedem Tag an Weggabelungen und treffen Entscheidungen. Wir entscheiden uns für die Gedanken, Gefühle und Handlungen, die wir uns zu denken, zu verspüren und zu vollziehen gestatten. Alle diese Entscheidungen fällen wir mit Blick auf das Wertesystem, unter das wir unser Leben gestellt haben. Bei der Auswahl dieses Wertesystems treffen wir somit eine der wichtigsten Entscheidungen in unserem ganzen Leben.“ (Benjamin Franklin)

Wir kennen das als Eltern sicher alle:
– wir motzen unser Kind an, weil wir erschöpft sind und nicht rechtzeitig auf unsere Grenze geachtet haben,
– wir machen unserem Kind Druck, weil wir denken, es müsste mehr für die Schule tun, damit es später Erfolg im Leben hat und glücklich ist,
– wir können es nicht fassen, dass schon wieder die dreckigen Socken nicht in die Wäschetruhe geräumt wurden und schreien unser Kind an,
– wir sind genervt davon, dass die Kinder scheinbar nur Fernsehen schauen oder Tablet spielen wollen und sprechen tadelnd Verbote aus,
– wir wollen nur noch, dass das aggressive Verhalten unseres Kindes endlich aufhört, weil es das ganze Familienleben zu bestimmen scheint und sagen ihm, es soll sich zusammenreißen.

All das sind Momente, in denen wir zumeist impulsiv reagieren. Was wäre aber, wenn wir es (immer öfter) schaffen würden, eine innere Pausentaste zu drücken, um in uns zu gehen und unsere Reaktionen abzugleichen mit unseren Werten? Denn unser Denken und Fühlen führt zu unserem Handeln. Und unser Handeln ist das, was wir Erziehung nennen, die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern umgehen, was wir ihnen über uns, sich selbst und das Leben vermitteln. Und das wiederum bestimmt maßgeblich darüber, wie sich unsere Kinder als Erwachsene fühlen, was für Werte sie leben und weitertragen werden.

Es im Alltag zu schaffen, die Pausentaste einzubauen, ist eine König*innen-Disziplin. Aber ich denke: wenn nicht das der Mühe wert ist, nach unseren Werten zu leben – was dann?

Jesper Juul hat vier Werte zusammengetragen, an denen wir uns als inneren Kompass für das Zusammenleben mit unseren Kindern orientieren können. Und die wir individuell mit unserer Persönlichkeit und Eigenart füllen können, um den Herausforderungen innerhalb der Familie zu begegnen:

Integrität, Gleichwürdigkeit, Authentizität, Verantwortung.

Heute geht es mir um die beiden Werte Authentizität und Verantwortung. Im nächsten Beitrag dann um Integrität und Gleichwürdigkeit.

Was bedeuten diese Werte für mich?

Zum Thema Verantwortung finde ich am wichtigsten, mir bewusst zu machen, dass ich als Elternteil zu 100% die Verantwortung für die Beziehungsqualität in der Familie trage – niemals die Kinder. Bei Konflikten innerhalb der Familie sollten wir daher den Ursprung nie beim Kind suchen, sondern immer bei uns selbst. Das ist ein Haltungswechsel, den Jesper Juul eingeleitet hat, bei „störendem“ Verhalten der Kinder auf die Eltern und die familiäre Situation zu schauen und nicht auf die Kinder. Früher wurden nur das Kind und sein „schlechtes Benehmen“ betrachtet. Juul hat damit begonnen, mit den Eltern zu arbeiten. Die Frage ist dann nicht mehr: Wie schaffe ich es, dass mein Kind sein schlechtes Verhalten ändert, sondern, wie kann ich mein Verhalten ändern? Und dabei geht es nicht um Schuld, sondern darum, die Verantwortung zu übernehmen. Und wenn ich mein Verhalten ändere, kann auch das Kind sich verändern.

Das fühlt sich erstmal sehr mühsam an, weil es dann nichts mehr nützt, mich über die anstrengenden Kinder aufzuregen. Dann muss ich an mir selbst arbeiten. Auf lange Sicht ist es aber sehr entlastend, weil ich es dann auch in der Hand habe, etwas zu verändern, wenn ich die Verantwortung trage. Ich bin also nicht den Umständen und den anstrengenden Kindern ausgeliefert, sondern ich kann die Dinge selbst anpacken. Eigentlich schön!

Authentizität würde ich beschreiben als Übereinstimmung zwischen dem, was ich denke und fühle und dem, was ich sage und wie ich es sage. Ich finde, es ist der komplexeste der vier Begriffe. Denn unser Denken, Fühlen und Handeln wird zu 80-90% vom Unbewussten gesteuert. Also auch von allem, was wir geworden sind aufgrund von Erfahrung, Erziehung und Trauma. Was ist also unsere „wahre“ Persönlichkeit und was sind Handlungsmuster, die wir uns angewöhnt haben, um uns selbst zu schützen? Wieviele unserer Gefühle verdrängen wir (meist Schmerz und Angst) und zeigen stattdessen Wut oder Erschöpfung? Sind wir authentisch, wenn wir unsere Kinder anbrüllen, weil wir wütend sind?

Jesper Juul hat diesen Begriff vor allen Dingen angeführt, um darauf hinzuweisen, dass wir als Eltern oft eine Rolle spielen (die strenge Mutter, der fürsorgliche Vater, die Ratgeberin usw.). Juul ermutigt dazu, viel ehrlicher und direkter zu zeigen, wie es uns geht, was in uns vorgeht, was wir wollen und nicht wollen. Und genau das müssen wir erstmal lernen selbst herauszufinden.

Die Schwierigkeit dabei, keine Rolle zu spielen, in Verbindung mit unseren wahren Gefühlen zu sein, BEWUSST zu handeln, ist die, dass die wenigsten von uns als Kinder eine authentische Eltern-Kind-Beziehung erlebt haben. Wir haben also keine Vorbilder. Wenn ich die Teilnehmer*innen in meinen Workshops frage, ob sie sich an Gespräche erinnern können, in denen sich ihre Eltern für ihr Leben und ihr Denken und Fühlen interessierten, dann sind es vielleicht 5%, die sich an so ein Gespräch erinnern können. Bei den anderen 95% ging es den Eltern darum, sie als Kind zu belehren mit der Aufforderung, dass sie das unerwünschte Verhalten ändern sollen. Es ging nicht um den Grund ihres Verhaltens und schon gar nicht darum, was die Eltern bei sich selbst verändern könnten. Natürlich ist es also schwierig für unsere Generation, echte Dialoge mit den eigenen Kindern zu führen.

Um uns aber auf den Weg dahin zu machen, kommen wir meiner Meinung nach daher nicht drum herum, unsere Biografie zu reflektieren. Und uns unsere Prägung und unsere eigene Erziehung anzusehen, um zu erkennen, an welcher Stelle wir im Zusammenleben mit unseren Kindern unhinterfragt Erlerntes übernehmen, oder trotzig genau das Gegenteil machen. An welcher Stelle Schutzstrategien und innere Glaubenssätze unser Denken, Handeln und Fühlen steuern, die aus unserer eigenen Kindheit unreflektiert übernommen werden. Wenn ich als Kind zum Beispiel abgewertet wurde und nur Anerkennung bekommen habe dafür, wenn ich mich stark angepasst habe und etwas Nützliches für die Familie getan habe, dann könnten meine Glaubenssätze lauten: „Was ich brauche interessiert niemanden“ und „Ich muss immer für andere da sein“. Wenn meine Schutzstrategie dann ist, dass ich nicht auf meine eigenen Grenzen achte und ständig die fürsorgliche Mutter „spiele“, dann werde ich irgendwann zwangsläufig sauer oder traurig. Weil ich dann den alten Glaubenssatz reaktiviere: „Was ich brauche interessiert niemanden“. Und das ist kein schönes Gefühl.

Wenn wir unsere Sozialisierung und diese damit einhergehenden inneren Prozesse aber erkennen, können wir sie hinterfragen, uns neue positive Glaubenssätze antrainieren und aus dem bewussten Erwachsenen-Ich heraus agieren. Auch und gerade in konflikthaften Situationen mit unseren Kindern. Und wir alle haben unsere aus der eigenen Kindheit resultierenden negativen Glaubenssätze. Es ist erstaunlich, was passiert, wenn wir sie uns bewusst machen – im Zusammenleben mit unseren Kindern, mit unserem Partner / unserer Partnerin und auch in Beziehung zu anderen Menschen.

Ich selbst merke, wie bereichernd das ist, immer besser zu verstehen, warum ich wie denke, fühle und handle. Und zu entdecken, dass ich auch ganz anders denken, fühlen und handeln kann. Denn genau das ist die Reihenfolge: erst denken wir etwas, dann haben wir ein Gefühl dazu und dann erst handeln wir.

Wir können üben, im Alltag die Pausentaste zu drücken in Situationen, in denen wir impulsiv reagieren. Wir merken dann vielleicht früher, dass wir zum Beispiel Zeit für uns brauchen und den Glaubenssatz: „Ich muss immer mit meinem Kind spielen, um eine gute Mutter zu sein“ umschreiben in „Ich darf für mich sorgen und es mir schön machen, dann bin ich ein gutes Vorbild für meine Kinder“. Dann schaffe ich vielleicht auch einen authentischen Dialog mit meinem Kind über Medien, kann über meine Sorge sprechen und kann das Kind üben lassen zu merken, wie es sich selbst fühlt, wenn es viel Medien konsumiert. Ich könnte es schaffen, nicht genervt Tabletspielen und Fernsehen zu verbieten, sondern Verständnis für die Schwierigkeit der richtigen Dosierung haben. Und schöne Vorschläge machen und vom Kind einholen, wie die ganze Familie eine medienfreie Woche gestalten kann mit anderen tollen Dingen, die sie gemeinsam unternimmt.

Wir würden im Moment des Wutausbruches unseres Kindes vielleicht eher den Menschen in Not sehen, als selbst wütend zu werden. Wenn wir die Pausentaste drücken, könnten wir uns dann fragen: Was für eine Mutter oder ein Vater will ich jetzt sein? Will ich, dass mein Kind fühlt, dass es eine Last ist, oder soll es später denken: Meine Eltern haben mich in meiner größten Not gesehen und haben mir geholfen, da rauszufinden? Und was ist uns wichtiger, dass unsere Kinder glückliche Menschen werden, oder dass sie erfolgreich werden (und dazu heute immer gut in der Schule sind)? Und was bedeutet Erfolg – für mich, für mein Kind? Und wenn wir uns fragen, was wir möchten, das unsere Kinder mit 18 Jahren sagen, was sie von uns gelernt haben, vielleicht sind dann auch die dreckigen Socken auf dem Boden mal grade nicht so wichtig.

Ich habe die Pausentaste in 3 Stufen eingeteilt.
1. PAUSENTASTE – take a breath
2. PAUSENTASTE – Innenaufnahme
3. PAUSENTASTE – Helikopteraufnahme

„Take a breath“ ist so ein typischer Satz aus meiner Zeit als Schauspielerin. Wenn jemand beim Proben angespannt war, sich blöd gefühlt hat (und als Schauspieler*in fühlt man sich oft blöd), nicht mehr so richtig bei sich war, dann hat die Regisseurin gesagt: „Take a breath“. So simpel es klingt und so oft es in allen möglichen Trainings empfohlen wird – tiefes Durchatmen bringt uns runter und verbindet uns mit uns selbst. Ich fand diesen „Tipp“ lange zu simpel, um ihn ernstzunehmen und anzuwenden.

Aber ich hatte so einen klassischen Moment, in dem ich oft ungeduldig und genervt wurde und dann auch immer wieder meine Kinder angemotzt habe: Abends lese ich meinen Kindern immer eine Geschichte vor. Ich bin meistens erschöpft am Abend und will ab spätestens 20 Uhr meine Ruhe. Um das hinzubekommen, habe ich eine Zeitlang klargemacht, dass die Kinder um 19.45 Uhr fertig im Bett liegen müssen, wenn sie eine Geschichte wollen, weil ich um 20 Uhr das Kinderzimmer verlasse und ins Wohnzimmer gehe. Das ging auch eine Weile gut und ich war ganz stolz, dass ich nicht mehr motze. Aus verschiedenen Gründen – dieser Weg klappt nicht mehr. Es wird immer später. Ich merke auch, ich will mich eben selbst gar nicht beeilen mit Abendessen und allem. Also hab ich wieder wahrgenommen, wie ich angespannt im Vorlese-Sessel sitze und meine Tochter muss noch Zähne putzen, mein Sohn steht wieder auf, weil er noch schnell die Pokemon-Karten packen muss, die morgen mit in die Schule müssen, meine Tochter kommt zurück, muss aber doch noch schnell in die Küche, um eine Wasserflasche fürs Bett zu holen und dann muss meistens noch irgendjemand pinkeln. Ich koche innerlich schon.

Also – Pausentaste. Aha, ich merke, wie erschöpft ich bin. Ich empfinde meine Kinder als Schuldige dafür, dass ich mich jetzt nicht ausruhen kann. Ich nehme ihr Verhalten persönlich, als ob sie auf meinen Bedürfnissen rumtrampeln. Ich spüre, wie meine Beine kribbeln (das passiert immer, bevor ich laut werde). Ich frage mich: Was für eine Mutter will ich jetzt sein? Und ich atme in meine Erschöpfung und in meine kribbelnden Beine. Ich nehme das alles an, ich weiß, es handelt sich, auch wenn es sich wie eine Ewigkeit anfühlt, nur um 5-10 Minuten. Kinder sind so, sie planen nicht drei Schritte im Voraus, sie sind im Moment, das ist ganz normal. Das geht nicht gegen mich. Und wenn ich schreie, geht es nicht schneller. Ich will meine Kinder liebevoll ins Bett bringen und den Tag ruhig ausklingen lassen. Ich warte also, bis alle soweit sind und ich die Geschichte lesen kann.

Beide Varianten – mit absoluter Klarheit einzufordern, dass die Kinder um 19.45 Uhr im Bett liegen und die etwas gedehntere Variante einigermaßen gelassen anzunehmen – waren eine bewusste Entscheidung meines Erwachsenen-Ichs. Das ist für mich Authentizität gepaart mit Verantwortung. Tiefes Durchatmen bringt uns in unser Erwachsenen-Ich. Von dort können wir so handeln, wie wir es aus unserem bewussten Ich entscheiden.

Wir können also als zweiten Schritt in die Innenperspektive gehen und sehen, was in uns vorgeht. Wollten wir die Rolle der fürsorglichen Mutter spielen und sind schon vorher über unsere Grenzen gegangen, kritisieren wir jetzt unsere Kinder dafür, wollen wir den Schmerz der Erschöpfung nicht fühlen und gehen in die Wut? Und als dritter Schritt kann dann die Helikopterperspektive eingenommen werden (das braucht manchmal erstmal zeitlichen Abstand) und wir können wahrnehmen: Was passiert in der Situation zwischen mir und meinem Kind? Dann reflektieren wir die eigene Prägung und erkennen unsere Glaubenssätze, wir kennen und spüren uns selbst, eigene persönliche Grenzen und Werte und entscheiden frei, bewusst und unabhängig, wie wir als Mutter oder Vater sein wollen.

Auch in Konflikten mit dem Partner / der Partnerin ist die Pausentaste hilfreich. Und eine Beschäftigung mit dem Glaubenssatz, der dem Konflikt möglicherweise zugrunde liegt: Ich muss stark sein, ich bin wertlos, ich werde nicht gesehen, ich genüge nicht, ich muss perfekt sein, ich darf nicht wütend werden, ich muss für die anderen sorgen, ich bin zu viel, ich bin nicht in Sicherheit usw. Es kostet wirklich Mühe, aber wir können unsere negativen Glaubenssätze in positive umschreiben: Ich bin es wert, dass auf mich Rücksicht genommen wird (dann können wir auch für uns einstehen, ohne zu meckern), ich darf für mich selbst sorgen, ich darf um Hilfe bitten, ich darf Fehler machen, ich genüge…

Das ist natürlich alles leichter gesagt, als getan – das weiß ich aus eigener Erfahrung. Darum wird in meinen Workshops ja auch ins Praxisfeld der familiären Situationen gegangen, um Erfahrungen und innere Haltungswechsel spürbar zu machen und alternative Handlungsmöglichkeiten praktisch auszuprobieren. Wir trainieren sozusagen den Haltungs- und Handlungsmuskel. Je mehr wir trainieren, desto schneller können wir in der Realität unser Denken, Handeln und Fühlen gezielt verändern. Dann wird unser Zusammenleben in der Familie immer mehr von unseren Werten geleitet und immer weniger von unseren Schutzstrategien und unserer Impulsivität.


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