Besitze ich das Problem – oder mein Kind?
Ich merke immer wieder, wie ich mich dafür verantwortlich fühle, die Probleme meiner Kinder zu lösen. Letzte Woche zum Beispiel: Alle Kinder in der Klasse meiner Tochter sollen zum Abschluss der 3. Jahrgangsstufe ein paar Zeilen über ihre Lehrerin schreiben. Das Ganze wird dann zu einer Art Zeugnis zusammengestellt. Wir wissen das seit 2 Wochen, aber meine Tochter hat noch nichts geschrieben. Ihr fällt nichts ein.
Sie leidet darunter, dass sie nicht weiß, was sie schreiben soll. Die Abschiedsfeier ist in 3 Tagen. Ich merke, dass mich das nervös macht. Gedanken gehen mir durch den Kopf wie: sie wird das einzige Kind sein, dass nichts geschrieben hat. Die Lehrerin wird traurig sein, meine Tochter wird sich schämen und mir ist es auch unangenehm, wenn alle Kinder ihre Zeilen vorlesen – nur sie nicht.
Ist aber auch ne schwierige Aufgabe für eine Achtjährige, denke ich, werde kurz sauer und frage mich, wer eigentlich auf diese Idee kam? Ich kann ihr ja helfen, fällt mir ein und mache meiner Tochter Vorschläge. Die findet sie leider gar nicht toll – weder interessant noch witzig. Ich werde langsam genervt. Innerlich baut sich bei mir Druck auf: jetzt lass uns doch irgendwas schreiben, muss ja nicht den Nobelpreis für Literatur gewinnen. Aber auch meine Nachfragen nach den Stärken der Lehrerin bringen uns nicht weiter. Da erkenne ich, wo mein Problem liegt: Dass ich nämlich UNS denke. Dass ich das Problem meiner Tochter zu meinem eigenen Problem mache.
Ich atme also erstmal durch und besinne mich auf die Grundlagen der Demokratischen Erziehung. Wenn ich versuche, die Probleme meiner Tochter für sie zu lösen, dann enthalte ich ihr etwas Wichtiges vor: Nämlich die Möglichkeit, das Problem selbst zu bewältigen, den eigenen Weg und Umgang damit zu finden und hinterher etwas für sich dazu gelernt zu haben. Das heißt nicht, dass ich mein Kind nicht dabei unterstützen kann. Aber unterstützen heißt in erster Linie zuhören. Wie höre ich meinem Kind zu, damit es mit mir spricht?
Dazu muss ich
– die Bereitschaft haben, wirklich hinzuhören
– mir die Zeit nehmen, die mein Kind mich braucht
– Kraft aufbringen, die negativen Gefühle meines Kindes auszuhalten
– das Vertrauen haben, dass mein Kind es schafft, sein Problem zu lösen oder damit umzugehen.
Ich lasse das Thema also erst einmal los. Nehme den Druck raus. Später kommen meine Tochter und ich ins Gespräch. Sie öffnet sich, erzählt mir, warum ihr das so schwer fällt. Alles, was ihr einfällt, klingt für sie doof und langweilig. Sie hat Angst, sich zu blamieren, wenn sie es vor den Schüler*innen, Eltern und Erzieher*innen vorlesen muss. Kann ich gut verstehen. Ich höre zu, lasse sie weiter reden. Mache ihr Problem nicht klein oder rede es ihr aus. Ich versuche auch nicht, es für sie zu lösen. Sie ärgert sich, dass sie gezwungen wird, etwas zu schreiben und vorzulesen, obwohl sie sich selbst nicht dazu entschieden hat. Verstehe ich auch sehr gut. Ich lerne meine Tochter besser kennen. Sie überlegt – und sagt dann selbst, dass ihre Lehrerin sich aber sicher sehr über die Zeilen freuen wird. Stimmt, Lehrer bekommen ja auch wenig Anerkennung von Kollegen oder der Schulleitung, weil diese ihre Arbeit im Unterricht gar nicht mitbekommen – füge ich hinzu und denke an meine zahlreichen Lehrer*innen-Freunde. Kein leichter Job!
Jetzt lächelt meine Tochter. Ich weiß, dass sie ihre Lehrerin sehr mag und ihr gerne eine Freude machen will. Schon sprudeln die Ideen aus ihr raus und in zwei Minuten hat sie ihre Sätze aufgeschrieben, im Ranzen verstaut und sich ihrer neuen Hörspiel-CD gewidmet.
Wir beide, meine Tochter und ich, durften etwas dazulernen. Im gemeinsamen Austausch und nicht durch meine Funktion als Ratgeberin, nicht durch das Ausreden und Kleinmachen des Problems, oder durch eine Notfall-Kommando-Aktion. Meine Tochter konnte ihr Problem durchgehen, ihre Gefühle wurden akzeptiert, sie konnte das Problem analysieren und selbst nach Problemlösungen suchen. Ich habe ihr das Vertrauen geschenkt, dass sie dazu in der Lage ist.
Und das war ein verhältnismäßig kleines Problem. Es steht für mich als Symbol für all die Probleme, die auf meine Kinder noch zukommen werden: die Lehrerin ist ungerecht, die Clique schließt sie aus, die Noten sind schlecht, mein Kind fühlt sich hässlich, unbeliebt oder was auch immer.
Die Probleme meiner Kinder nicht sofort aus der Welt schaffen zu können, das fällt mir nicht immer leicht. Wir lieben unsere Kinder, wollen nicht, dass sie leiden und haben auch nicht immer die Zeit, wirklich aufmerksam zuzuhören und auszuhalten, dass es auf dem Weg der eigenständigen Problemlösung keine Abkürzungen gibt. Aber wenn wir das schaffen, dann schenken wir unseren Kindern etwas Großes.
Wenn Kinder früh anfangen dürfen zu üben, ihre Probleme selbst in die Hand zu nehmen, dann sind sie für später gewappnet. Dann haben sie eine emotionale Reife, innere Stärke und Vertrauen in ihre Fähigkeit der Problemlösung. Wir sollten uns unseren Kindern als Resonanz-Boden zur Verfügung stellen, der es ihnen ermöglicht, eigene Lösungen zu finden – gleich oder vielleicht auch erst später.
Aktives Zuhören ist eine wirksame Methode nach Thomas Gordon, die dem Kind hilft, selbstbestimmter, selbstverantwortlicher und unabhängiger zu werden. Es ist keine einfache Technik, die wir aus dem Werkzeugkasten holen. Dazu müssen wir eine Reihe von Einstellungen in die Praxis umsetzen. Das können wir üben – und feststellen, wie erfüllend und auch entlastend das Leben mit Kind dadurch sein kann.