Sprich mit mir – wie unsere Kinder ehrlicher zu uns sein können
Gerade in dieser schwierigen Zeit ist es gleichzeitig die größte Herausforderung und von größter Bedeutung, in Beziehung zu unseren Kindern zu bleiben. Schule und Kita haben geschlossen, wir jonglieren zwischen Job und Kindern, einige von uns geraten in ernsthafte finanzielle Nöte, wir machen uns Sorgen über die eigene Gesundheit und die von Familienmitgliedern, manche fühlen sich sozial vereinsamt, überfordert und am Limit. Kinder haben unglaublich starke Gefühlsantennen und nehmen all diese Gefühle an uns wahr, ohne dass sie ihre eigenen Gefühle adäquat in Worte fassen, begreifen und einordnen können. Unsere Ängste und Sorgen prasseln ungefiltert auf sie ein, verunsichern und ängstigen sie. Wenn unsere Kinder in dieser Zeit besonders aggressiv, unvernünftig und unkooperativ werden, dann ist das nur selbstverständlich. Wenn wir Erwachsenen zum Teil schon so überfordert sind, wie mag es dann wohl den Kindern gehen?
Durch die Überforderung wird unser Geduldsfaden dünner, die Hemmschwelle über zu reagieren kleiner, die Gefahr der häuslichen Gewalt steigt im Moment an. Jetzt ist es wichtiger denn je, die Verantwortung für das Wohl der Familie zu übernehmen, mit unseren Kindern in Kontakt zu bleiben, mit ihnen zu sprechen, uns für Fehler und Ungeduld zu entschuldigen und ein Anker für sie zu sein, der ihnen Halt gibt. Wir können uns bewusst machen, warum unser Kind grade so (über)reagiert und ihm helfen, seine Gefühle zu sortieren. Gerade jetzt brauchen unsere Kinder einen sicheren Hafen, Nähe und Authentizität. Sie brauchen uns. Es ist die Zeit, in der wir uns mehr denn je mit unseren wahren Werten verkoppeln können und uns die Frage stellen: Was ist mir in der Familie und im Leben wirklich wichtig? Wie wollen wir in der Familie miteinander umgehen? Ich selbst habe versucht, meinen Anspruch herunterzufahren im Haushalt und an meine Leistungsfähigkeit im Homeoffice. Jetzt können wir unseren Kindern Werte vermitteln wie Dankbarkeit für das, was wir haben, Hilfsbereitschaft, Flexibilität und Kreativität im Umgang mit der Situation und gemeinschaftlichen Zusammenhalt.
Nach der ersten Woche Kita- und Schulschließung wollte ich mit meinen Kindern ein Resumée ziehen, wie uns die Umstellung gelungen ist und habe sie gefragt, ob wir uns gegenseitig sagen wollen, was wir jeweils besser machen können. Meine Tochter meinte, sie will damit anfangen zu sagen, was SIE SELBST besser machen kann und sagte: „Ich muss an meinem motzigen Ton arbeiten.“ Daraufhin sagte mein Sohn: „Ich will versuchen, nicht immer gleich so beleidigt zu sein.“ Ich war vollkommen verblüfft, wie die beiden mit 10 und 5 Jahren so eine hohe Fähigkeit zur Selbstreflexion haben. Das wären auch meine Punkte gewesen, die ich ihnen gespiegelt hätte. Und auch mir fiel gleich ein, woran ich arbeiten kann: „Ich will versuchen, nicht mehr so pingelig zu sein mit meiner Ordnung.“
Diese Zeit kann uns als Familie näher zusammenbringen. Gerade, weil sie uns vor große Herausforderungen stellt. Die Frage ist, wie wir mit diesen umgehen wollen? Es ist eine Zeit, in der es im permanenten Zusammenleben auf engem Raum unerlässlich ist, in der Familie miteinander ins Gespräch zu kommen.
Wenn wir selbst ehrlich über unsere Gedanken und Gefühle sprechen, vermitteln wir unseren Kindern als Vorbild, was es heißt, für sich selbst zu sorgen und die eigenen Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse wahrzunehmen und zu kommunizieren. Da das aber schon für uns Erwachsene schwierig ist, können wir uns vorstellen, wie herausfordernd das erst für Kinder ist, zu verstehen, was in ihnen vorgeht und es angemessen mitzuteilen. Kinder sind meistens von ihren Gefühlen übermannt und nicht in der Lage, allein einen Schritt zurückzutreten, um sich und die Situation von außen wahrzunehmen. Selbstwahrnehmung und -reflexion sind Fähigkeiten, die viel Übung benötigen, damit sie gelingen. Dazu brauchen die Kinder unsere Unterstützung. Wir können ihnen helfen, ihre Frustration und ihr Verhalten zu entschlüsseln. Indem wir ihnen einen Bogen spannen von ihrem Gefühl zu ihrem Bedürfnis. Was braucht mein Kind, wenn es wütend, verzweifelt und unkooperativ ist?
Das gelingt am Besten, wenn wir erst einmal die Gefühle des Kindes annehmen und spiegeln. Spiegeln ist eine gefühlte Beziehung im Hier und Jetzt. Es ist die Fähigkeit, das Gegenüber in seinen Gefühlen zu erfassen und ihm das mimisch, gestisch und verbal mitzuteilen, ohne die Gefühle selbst zu übernehmen und sich davon wegtragen zu lassen. Dazu muss ich die Gefühle ernst nehmen und sie nicht bewerten, in dem Wissen: „Ich weiß, dir geht es mit etwas nicht gut, sonst würdest du dich nicht so verhalten.“ Weiß und fühlt das Kind, dass seine Gefühle in Ordnung sind und eine Ursache haben und dass es eine Person gibt, die das interessiert und die solange an seiner Seite sein wird, bis es diese herausgefunden hat, wird es sich sicher fühlen und kann den nächsten Schritt gehen, der Ursache der Frustration mit Hilfe der Eltern auf den Grund zu gehen.
Neben dem Spiegeln brauchen Kinder Raum, sich auszudrücken, zu sprechen, sich zu zeigen, als Persönlichkeit vorzukommen. Ich merke, wie ich meine Kinder in schwierigen Situationen manchmal zu sehr mit meinen Gedanken „volllabere“, anstatt sie zu fragen, ihnen ausreichend zuzuhören und Raum zu geben. Weil ich bereits denke zu wissen, was los ist, weil ich ein eigenes Ziel im Auge habe, das ich verfolge – weil ich die Abkürzung nehmen will. Aber bei Beziehungen gibt es keine Abkürzung. Die Frage ist also: Kann ich alles loslassen, was ich gerade verfolge und im Jetzt sein, mit allem, was mein Kind fühlt und denkt? Kann ich das Vertrauen herstellen, so dass mein Kind mich an seinen eigenen Gefühlen, Urteilen und Empfindungen teilhaben lassen kann und es dabei unterstützen, diese herauszufinden? Das kann ich natürlich nicht immer und jederzeit, wir sind gestresst, in Eile, erschöpft, überlastet, haben unsere eigenen Grenzen. Aber wir können uns in diese Richtung bewegen und es immer wieder versuchen. Wenn meine Kinder in einem Moment alles blockieren, spätestens dann ist es an der Zeit loszulassen und den Kindern das Feld des Zeigens und Sprechens zu überlassen und wie ein Schwamm da zu sein und es aufzunehmen. Dann ist eine wirkliche Annahme des Gefühls gefragt, ohne Manipulation, ohne Absicht, ohne Ungeduld.
Ich habe neulich in einem Hörbuch von Jesper Juul einen Satz gehört, der mich zu Tränen gerührt hat. Es ging um das Thema Strafe und Belohnung. Wenn das Kind sich extrem unkooperativ verhält, wenn es z.B. keine Hausaufgaben mehr machen will, sich nicht am Haushalt beteiligen oder sonst wie rebelliert und wir versprechen eine Belohnung, wenn es das trotzdem macht, dann bedeutet das so viel wie: „Mich interessiert nicht, warum es dir schlecht geht, aber wenn du dich zusammenreißt, bekommst du einen Muffin.“ Oder eben „…wenn du dich nicht zusammenreißt, bekommst du Fernsehverbot“, was so viel heißt wie, dann sorge ich dafür, dass es dir noch schlechter geht, als es das ohnehin schon tut.
Wenn mein Kind rebelliert, dann geht es ihm nicht gut, dann ist sein Tank leer. Dann bin ich diejenige, die dafür sorgen muss, dass der Tank wieder gefüllt wird. Das Kind kann das alleine nicht schaffen. Und ich muss das in der absoluten Überzeugung tun, dass, wenn ich das Richtige gebe, der Tank auch voll wird, er ist nicht unendlich tief. Rauszufinden, was dem Kind fehlt, ist nicht immer leicht, oft gibt es keine schnellen Lösungen. Wir können das tägliche Zusammenwirken in der Familie ansehen und uns damit auseinandersetzen (wie ist die Atmosphäre? Wo gibt es Belastungen? Projiziere ich Bedürfnisse und Erwartungen auf mein Kind? Fühlt sich das Kind nicht gesehen, nicht zugehörig in der Familie? Muss es sich zu viel anpassen…?). Und wir können den Alltag des Kindes betrachten (gibt es Probleme in Schule/Kita, mit Freundschaften…?). Wir können uns fragen: Wie oft nehme ich mir ½ Stunde Zeit, um wirklich für mein Kind präsent zu sein? Wo fühlt sich mein Kind nicht verstanden, bekommt es nicht, was es braucht? Ist mein Kind besonders sensibel und hat starke Gefühle? Hat mein Kind ein besonders starkes Autonomiebedürfnis?
Auch wenn die Kinder noch sehr klein sind und nicht mit uns über ihre Gefühle sprechen können, können wir eine Verbindung herstellen, dem Kind sagen und zeigen: Ich sehe, dir geht es mit etwas nicht gut und ich bin da und setze alles daran, dir zu helfen, damit es dir besser geht. Kleinere Kinder brauchen statt Worte dann mehr körperliche Zuwendung (Gehaltenwerden, liebevoll angesehen werden, im Arm wiegen), die sie beruhigt und ihnen zeigt, dass wir es wahrnehmen und schützen. Auch ein beruhigendes Klopfen mit den eigenen Händen auf die Arme (oder Beine) des Kindes, immer abwechselnd rechts und links, kann das Kind beruhigen. Diese Klopftechnik kommt aus dem EMDR, eine Form der Trauma-Therapie.
Einige Kinder scheinen empfindlicher zu sein, als andere, weniger gut zu beruhigen, schneller verletzt oder verunsichert und wütend. Dazu habe ich einen sehr schönen und treffenden Satz in meinem Workshop gehört: „Manche Kinder brauchen ein Pfund mehr Liebe als andere“. Und wir sind dafür verantwortlich, dem Kind zu geben, was es BRAUCHT. Nicht zu verwechseln damit, ihm alles zu geben, was es WILL. Dafür müssen wir den Impuls des Genervtseins überwinden und daran denken: Je mehr ich schnell und unkompliziert gebe (Zuwendung, Aufmerksamkeit, Hilfe…), desto weniger wird gefordert. Aufschieben verstärkt das Bestreben des Kindes.
Oft wird diese Haltung von Außenstehenden (Freunde, Familie, gerne auch fremde Menschen auf der Straße) kommentiert und bewertet nach dem Motto: „Ja, das Kind ist ja auch verwöhnt, kein Wunder, dass es sich so verhält.“ Diese Haltung stammt noch aus einer Zeit, in der Kinder als schlechte, unvollständige Objekte angesehen wurden, die mit harter Hand zu einem guten Menschen gemacht werden müssen. Ich kann aus absoluter Überzeugung sagen: Kein Kind wird zu einem schlechten, selbstbezogenen, unempathischen Menschen, weil es die Liebe und Zuwendung bekommt, die es braucht. Kinder die alles bekommen was sie WOLLEN, deren Willen man immer nachkommt (nach Spielsachen, Süßigkeiten…), die aber nicht bekommen, was sie BRAUCHEN (Liebe, ungeteilte Aufmerksamkeit, Anerkennung), diese Kinder lernen oft keine Rücksichtnahme und Empathie. Sie lernen häufig, das Fehlende durch noch mehr Wollen zu kompensieren.
Ich selbst versuche, wenn ich mit anderen Erziehungssystemen in Berührung komme und dabei vielleicht auch negativ bewertet werde, mich noch mehr auf mich selbst zurückfallen zu lassen und mich mit meiner Überzeugung zu verbinden. Und mich zu fragen: Was ist mein Ziel, was ist mir wichtig? Bin ich wirklich der tiefen Überzeugung, dass bedingungslose Liebe das ist, was mein Kind braucht, dass mein Weg der richtige ist? Oder denke ich selbst, ich müsste mal hart durchgreifen und dem Kind etwas beibringen? Dann sollte ich mir die ehrliche Frage stellen: Verhält sich ein Kind (oder auch ein erwachsener Mensch) unkooperativ und wütend, wenn es alles bekommt, was es braucht? Sind es nicht eher die, die autoritär erzogen wurden, die nicht gesehen und geliebt wurden, die sich später unkooperativ und egoistisch verhalten, um zu kompensieren, was sie nicht bekommen haben? Schauen wir uns die Biografien von Despoten und Gewalttäter*innen an, das waren Kinder, die nicht ausreichend Liebe, Wärme und Zuneigung bekommen haben und nicht Kinder, die zu viel Verständnis bekommen haben.
Ungeteilte Aufmerksamkeit geben und bedingungslose Liebe heißt ganz und gar nicht, sich selbst nicht abzugrenzen, seinem Kind alles abzunehmen, dem Kind keine negativen Gefühle zuzumuten, sich nur um das Kind zu drehen, sich selbst zu vergessen und zu vernachlässigen. Das ist auch nicht förderlich für das Kind. Diese Kinder bekommen ebenso nicht das, was sie brauchen, nämlich Beziehungen zu authentischen Eltern mit Bedürfnissen und Grenzen, das Recht durch eigene „negative“ Gefühle wie Frustration, Wut und Traurigkeit durch zu gehen, das Recht darauf ernst genommen zu werden als Mensch, dem man nicht alles abnimmt und für den man nicht auf alles verzichtet, weil er es sonst nicht aushalten würde, den man also nicht für voll nimmt.
Im optimalen Fall können beide Seiten davon ausgehen, dass der/die andere sein/ihr Bestes gibt und eine Balance sucht, zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen. Auf dieser Grundlage können wir mehr und mehr lernen, unsere eigenen Bedürfnisse und Grenzen mitzuteilen, ohne uns verletzt und angegriffen zu fühlen. Wir sprechen offen und authentisch miteinander und kommen in Dialog. Das ist die Basis einer engen und vertrauensvollen Beziehung. Wenn unsere Kinder beginnen, offen und ehrlich mit uns zu sprechen, ist das eines der größten Geschenke, das sie uns machen können.
Ich wollte neulich mit meiner Tochter etwas besprechen. Sie hat aber gerade etwas anderes gemacht, wobei ich sie nicht stören wollte. Also bin ich neben ihr stehen geblieben und wollte warten, bis sie fertig ist. Da hat sie gesagt: „Mama, wenn du so wartend neben mir stehst, dann fühle ich mich gestresst und kann mich nicht konzentrieren. Wenn ich merke, dass du wartest, fühlt sich das so an, als müsste ich mich beeilen“. Sie hat ihr Unwohlsein nicht einfach ausgehalten (und wäre damit über ihre Grenze gegangen) und sie hat mich nicht angeschnauzt, sie war einfach ehrlich. Ich dachte: „Wow, da kann ich aber echt noch was lernen!“ So offen zu sprechen, macht das Leben sehr einfach. Ich fühlte mich nicht verletzt von der Aussage und habe sofort das Feld geräumt, weil die Message ganz klar angekommen ist und ich sie nachvollziehen konnte. Meine Tochter konnte in dem Moment eine Irritation bei sich selbst wahrnehmen, entschlüsseln wo sie herkam, die Verantwortung für ihr Bedürfnis übernehmen und es mir mitteilen, ohne mich als Mensch zu bewerten. Und ich weiß, was das für sie bedeutet, weil sie ja auch zu recht sagt, sie müsse an ihrem Ton arbeiten, der nicht immer so respektvoll ist.
So können wir alle in der Familie immer nur versuchen, auf unserem Kurs des gleichwürdigen und authentischen Zusammenlebens zu bleiben. Und natürlich kommen wir von diesem Kurs immer wieder ab und müssen zurückfinden mit all unserer Willenskraft. Nicht immer sehen wir gleich das Ergebnis, wenn wir diesen Weg gehen. Deswegen ist es eine so große Herausforderung, uns nicht verunsichern zu lassen von anderen. Und den Glauben zu bewahren an ein noch nicht sichtbares Ziel, den unverbrüchlichen Glauben, auch dann, wenn alles in der Familie Kopf steht und sich nichts im Zusammenleben zu verbessern scheint. Es braucht den absoluten Willen, nach diesen Werten zu leben. Das ist es, was uns als Menschen ausmacht: Wir verfügen über die Willenskraft, uns zu verändern und immer wieder auf den Weg der Gleichwürdigkeit, der Authentizität und bedingungslosen Liebe zurück zu finden.
Dazu abschließend ein Abschnitt aus dem Buch von Stephen R. Covey: „Die 7 Wege zur Effektivität für Familien. Prinzipien für starke Familien“:
Denken Sie bei allem, was Sie mit Ihrer Familie erleben, an das Wunder des chinesischen Bambus. Wenn man den Bambus gepflanzt hat, sieht man vier Jahre lang nichts – nichts, außer einem winzigen Trieb. In dieser Zeit erfolgt das gesamte Wachstum unter der Erde, wo ein starkes, weitverzweigtes Wurzelwerk entsteht. Im fünften Jahr schießt der chinesische Bambus dann plötzlich auf eine Höhe von bis zu 25 Metern empor. Vieles in Ihrer Familie gleicht dem chinesischen Bambus. Sie arbeiten hart, Sie bemühen sich, investieren viel Zeit und tun alles, was in Ihrer Macht steht, um das Wachstum zu fördern. Doch Sie sehen manchmal monate-, ja sogar jahrelang rein gar nichts. Wenn Sie aber geduldig sind und unbeirrbar weiter arbeiten, wird auch in Ihrer Familie das fünfte Jahr kommen und Sie werden über das plötzliche Wachstum und all die positiven Veränderungen staunen.