Sprich mit mir – warum wir ehrlicher zu unseren Kindern sein sollten
Mir fällt in letzter Zeit auf, dass ich von meinen Kindern immer wieder will, dass sie etwas Bestimmtes tun oder nicht tun, ohne dass ich wirklich ganz ehrlich sage, warum ich das will. Wie ich mich also fühle und was ich brauche. In meinen Workshops nenne ich das „Primärgefühl identifizieren“. Wenn ich selbst nicht genau weiß, warum ich etwas will oder nicht will, dann ist die Botschaft, die ich sende, diffus und kommt nicht beim Kind an. Rolf Sellin, der zu dem Thema Hochsensibilität forscht, schreibt: „Kinder gehen auf der Suche nach ihren eigenen Grenzen und nach klaren Verhältnissen so weit, bis sie auf klare Signale ihrer Eltern stoßen.“ (Aus: Rolf Sellin: „Wenn die Haut zu dünn ist: Hochsensibilität – vom Manko zum Plus“). Es sind demnach nicht die Kinder, die die Grenzen der Eltern verletzen. Es sind die Eltern selbst, die es zulassen, weil sie kein klares Signal senden.
Das Signal sind einmal die Worte und aber auch das Gefühl, das unter den Worten mitschwingt. Etwas, das zwischen den Zeilen stattfindet. Wenn wir uns den Inhalt, den wir transportieren wollen und den wir in Worte fassen als Ball vorstellen, dann bestimmt der Wurf des Balles, also die Art des Sprechens, darüber, ob das, was ich vermitteln will, auch beim Gegenüber ankommt. Wenn ich von einem Gefühl spreche, das ich habe (z.B. ich bin sauer, ich habe Angst), das aber im Tonfall gar nicht mitschwingt, dann werfe ich den „Kommunikationsball“ ins Nirwana. Wenn ich mich also hinter Worten verstecke, führt das dazu, dass das Gegenüber irritiert ist, weil Worte und Art des Sprechens nicht zusammenpassen. Das, was ich senden will, kommt nicht an. Was z.B. automatisch passiert, wenn ich sage: „Mama ist wirklich sauer“, weil ich mich nicht zeige, wenn ich über mich selbst in der 3. Person spreche.
Der erste Schritt ist, mein Gefühl, mein Bedürfnis und meine Grenze zu identifizieren und ehrliche Worte zu finden, die das ausdrücken. Und der zweite Schritt ist dann, diese Worte so zu senden, dass das Gefühl mitschwingt. Und mit mitschwingen meine ist, dass ich gleichzeitig die volle Verantwortung für diese Gefühle übernehme. Wenn ich nämlich z.B. meine Wut ungefiltert und ohne Eigenverantwortung mit dem Worteball auf mein Kind werfe, dann niete ich es damit um und das Gesagte kommt ebenso nicht an, weil es verletzend und überwältigend ist. Es richtet im Gegenteil Schaden an, weil Kinder sehr schnell Schuld und Verantwortung auf sich nehmen. Und für unsere Gefühle ist unser Kind NIE verantwortlich!
Wenn ich es schaffe, auf diese Art zu kommunizieren, dann habe ich Authentizität erreicht. Was so viel bedeutet wie: Das, was ich sage und wie ich es sage stimmt mit dem überein, was ich denke und fühle. Und dann – das ist meine Erfahrung – haben meine Worte eine große Wucht und Überzeugungskraft.
Wenn ich mich im Familienalltag wundere, weil ich meiner Meinung nach ganz klar sage, dass ich etwas nicht will und meine Kinder tun es trotzdem, merke ich im Nachhinein häufig, dass ich Gründe genannt habe, die gar nicht meine wirklichen Gründe waren und dass ich nicht authentisch war. Neulich habe ich das Abendessen gekocht und die Kinder dann an den Tisch gerufen. Mein fünfjähriger Sohn hat gesagt, er isst nicht mit, er hat keinen Hunger, er geht jetzt allein zum Späti und kauft sich Pokemon Karten. Ich war als erstes ziemlich irritiert, weil er noch nie allein etwas einkaufen war. Und mir gingen Fragen durch den Kopf wie: Hat er denn Geld? Findet er den Weg? Und passt er wirklich auf, wenn er über die Straße geht? Andererseits fand ich es auch bewundernswert, dass er sich das zutraut und dass er so selbständig ist und genau weiß, was er jetzt will. Meine Verwirrung hat dazu geführt, dass ich nur gesagt habe, dass wir jetzt erst essen und er sich ja auch einfach dazusetzen kann oder was anderes machen, wenn er keinen Hunger hat und danach gehe ich mit ihm zusammen zum Späti. Er war sich aber sehr sicher, dass er sofort los will. Daraufhin habe ich gesagt: „Du hast doch gar kein Geld“. Auch das hätte ich mir schenken können, denn das hätte er in dem Fall spätestens beim Bezahlen gemerkt und eine eigene Erfahrung gemacht. Aber da habe ich meinen Sohn sowieso unterschätzt. Er hatte sein Portemonnaie mit 5€ schon längst in der Hand. Er rief nur noch „ich gehe jetzt“ und hat die Tür ins Schloss geworfen. Ich habe ihn nicht aufgehalten, weil ich keinen Machtkampf wollte – und weil ich wusste, er schafft das! Hätte ich wirklich Sorge um seine Unversehrtheit gehabt, wäre ich in meinem NEIN deutlich geworden und es wäre sicher angekommen.
Was nun aus MEINEM Abendessen wird, wurde mir erst dann klar: Ich habe natürlich am Fenster gestanden und rausgeschaut, ob mein Sohn Hilfe braucht und ob er auch wirklich wieder heil zurück kommt. Der Späti ist nicht weit, aber so ein erster Einkauf braucht seine Zeit. Mein Sohn kam ganz stolz mit seinen Pokemon Karten zurück. Da hatte ich mich dann soweit sortiert, dass ich klar über meine Position sprechen konnte. Ich habe ihm gesagt: „Weißt du, auch wenn du nichts essen wolltest, ich hätte jetzt gerne in Ruhe mein warmes Essen gegessen und das konnte ich nicht, weil ich natürlich gar keine Ruhe habe für ein gemütliches Essen, wenn du zum ersten Mal allein einkaufen gehst. Ich habe die ganze Zeit am Fenster gestanden und jetzt ist mein Essen kalt.“ Da hat er mich angeschaut und gesagt: „Oh, das tut mir leid, Mama. Das wusste ich nicht.“ Wie auch? Ich wusste es ja selbst nicht und habe es so schnell gar nicht merken und kommunizieren können.
Wie oft verstricken wir uns in Machtkämpfe, anstatt ehrlich zu sagen, was unser Bedürfnis ist: ein ruhiges, gemütliches Essen zum Beispiel. Ich versuche das zu üben, indem ich erstmal im Nachhinein rausfinde, warum ich gerade wütend, verletzt oder erschöpft war. Und indem ich im Alltag achtsamer in mich horche, was gerade wirklich in mir vorgeht. Warum will ich, dass mein Kind nicht so viel Zeit vor dem Tablet verbringt, dass es am Tisch nicht schmatzt, dass es rechtzeitig ins Bett geht, oder dass es im Haushalt hilft? Kinder verstehen viel eher persönliche mit Gefühl verbundene Aussagen als Studien, Regeln, Normen oder „das ist wichtig für deine Zukunft“-Sätze. Wie wir Erwachsenen im Grunde auch, nur dass wir noch mehr in der Lage sind, auf unsere Zukunft gerichtet zu handeln und die Auswirkung unseres Verhaltens auf die Zukunft abzusehen und es danach auszurichten.
Die Mithilfe im Haushalt, die ich in meiner Familie einfordere, ist ein gutes Übungsfeld für mich. Wenn ich das moralisch wertend anspreche nach dem Motto: „Ich bin doch nicht euer Dienstmädchen“, dann passiert nicht viel an Hilfe und wenn dann ziemlich widerwillig. Je mehr ich deutlich mache, dass ich nicht bereit bin, die ganze Arbeit allein zu machen, weil ich es eine unfaire Verteilung finde und es mir einfach zu viel ist, desto klarer kommt meine Botschaft an. Und wenn ich dann wirklich darauf bestehe mit aller Beharrlichkeit und ohne Vorwurf, dann passieren kleine Wunder. Nämlich, dass ich häufig gar nicht mehr sagen muss: Räum mal bitte die Spülmaschine aus, sondern dass meine Tochter es einfach von selbst tut.
Natürlich können wir mit unseren Kindern auch über Auswirkungen von Verhalten sprechen, weil ihnen Informationen fehlen, z.B. über die Wirkung von zu viel TV- und Tablet-Konsum. Aber auch da ist eine persönliche Sprache viel wirkungsvoller und eine Beschreibung, was ich am Kind beobachte, wenn es zu viel spielt, z.B. dass ich es dann als unausgeglichener und gereizt wahrnehme. Und dass das für mich wiederum sehr anstrengend ist und ich das nicht will. Oder, was ich meinem Sohn neulich erklärt habe: „Ich beobachte, wie du in letzter Zeit ständig fragst, ob du Tablet spielen kannst und das fühlt sich für mich an, wie eine Sucht. Sucht bedeutet, dass du nur noch an eine Sache denken kannst und ohne diese Sache nicht glücklich bist. Bei manchen Menschen sind das Zigaretten oder Schokolade. Dann muss man einen Entzug machen, um wieder glücklich zu sein und frei. Und das machen wir jetzt mit dem Tabeltspielen, weil ich dafür verantwortlich bin, auf dich aufzupassen.“ Ich war erstaunt, wie sehr ihn das mit der Sucht interessiert hat und wie er auch unbedingt einen „Entzug“ machen wollte, auch wenn es schwer ist. Ich habe sein Verlangen nach dem Spielen nicht bewertet. Ich war auch nicht genervt davon oder habe besserwisserische Erklärungen parat gehabt. Ich habe versucht, ihm ehrlich und auf Augenhöhe zu erklären, was bei ihm innerlich passiert und dass ich ihm helfe, sich wieder davon frei zu machen. Unzählige Diskussionen und Streitereien zu diesem Thema musste ich hinter mich bringen, um an diesen Punkt zu kommen. Um an den Kern meiner Gedanken und Gefühle zu stoßen – für diesen Moment und passend für meinen Sohn. Bei anderen Müttern und Vätern mit anderen Kindern braucht es vielleicht etwas anderes.
Wenn wir unseren Kindern das bieten, so authentisch wie möglich unsere Reaktion auf ihr Verhalten zu zeigen, dann ist das die beste Übung für das Kind, um „sozial kompatibel“ zu werden – das allerbeste Empathie-Training. Das gelingt natürlich nicht in jeder Situation, weil das Übungssache ist und wir manchmal einfach überlastet sind. In welchen Momenten wir es aber auf jeden Fall machen sollten ist, wenn ein Konflikt zum Machtkampf wird: Das Zähneputzen, die Hausaufgaben, das ins Bett gehen… Wenn wir immer mehr Kraft für unser Wollen aufbringen müssen und das Kind immer stärker dagegenhält. Dann sollten wir spätestens den Stecker ziehen. Bei besonders autonomen Kindern, die mehr Selbstbestimmungsrecht und Freiheit brauchen und fordern als andere ist das der einzige Ausweg aus ständigen Machtkämpfen.
In diesen Momenten haben wir so große Angst, unsere Macht zu verlieren und davor, dass uns alles entgleitet und wir nichts mehr unter Kontrolle haben, dass wir nicht mehr klar sehen können. Geschweige denn klar empfinden, denken und kommunizieren. Gerade dann ist es am Sinnvollsten, das was ich will und für richtig halte (Zähne müssen geputzt, Hausaufgaben sollen gemacht werden) komplett loszulassen mit dem Wissen, dass das Kind nicht sterben wird (könnte es sterben, also auf die Straße rennen oder so, dann sollten wir den Machtkampf auf jeden Fall gewinnen, aber das ist fast nie der Fall). Wenn ich es dann schaffe, die Verbindung wieder herzustellen, in dem ich mich wirklich zeige, wenn ich genau diese Verzweiflung, Ratlosigkeit und Verletzlichkeit nicht mehr hinter Machtansprüchen verberge, bringt mich das dem Kind wieder nahe. Natürlich nur, wenn ich für diese Gefühle die Verantwortung übernehme und sie nicht zeige, weil ich das Kind damit emotional erpressen will, weil ich ihm die Schuld daran gebe, oder weil ich vom Kind aufgefangen werden möchte. Wir müssen das, was wir sagen, wirklich meinen und es nicht nur anwenden, weil wir unser Kind manipulieren wollen. Ich kann eine „Methode“ anwenden als Trick, weil ich etwas erreichen will. Dann klappt es nicht, weil ich dann nicht authentisch bin. Und Kinder merken ja alles!
Und dann kann der nächste Schritt gegangen werden zu schauen: Was brauche ich, was brauchst du und wie können wir eine Lösung finden, die für uns beide passt?
Das mit dem „authentisch sein“ ist eine ganz schön weite Reise, stelle ich fest. Und ein tiefes Graben in meinem Gehirn und meinem Gefühl. Aber es lohnt sich. Nicht nur in Beziehung zu meinen Kindern. Schneller zu wissen, was ich denke, fühle und brauche macht das Leben unkomplizierter und schöner, weil ich für mich sorgen kann. Wenn ich alleine bin und im Zusammentreffen mit anderen Menschen.
Das Tolle an der Sache ist, dass wir den Kindern neben dem Empathie-Training auch vermitteln, was es heißt, für sich selbst zu sorgen und die eigenen Gefühle, Gedanken und Bedürfnisse herauszufinden und zu kommunizieren. Sie bekommen ein Repertoire an Gefühlen und Gedanken vorgelebt, an dem sie abgleichen können, was auf sie selbst gerade zutrifft. Sie müssen also weniger verzweifelt, unkooperativ und wütend sein, weil sie viel besser verstehen und sagen können, was sie wollen, brauchen und wie sie sich fühlen. Mehr zu diesem Thema folgt im nächsten Newsletter.