Wie geht es unseren Kindern in dieser Zeit?

Wie geht es unseren Kindern in dieser Zeit?

Ich muss sagen, ich bin ziemlich irritiert vom Umgang mit dem Thema Kinderbetreuung in Corona-Zeiten. Mein Eindruck ist, die größte Sorge ist die, wie die Schulkinder nur den ganzen Lernstoff jemals wieder aufholen sollen. Mir kommt das so vor, als ginge das Schiff unter und man kann nicht davon ablassen, weiter das Silberbesteck im Schrank in der Schiffskantine zu polieren. Sind Kinder nur noch Lernmaschinen, in deren Köpfe in einem bestimmten Zeitraum bestimmte Fakten reinmüssen? Und welche Fakten sind das? Was ist wirklich wichtig? Gerade in diesen Zeiten? Es scheint mir, dass es dabei gar nicht um das Wohlergehen der Kinder geht, sondern nur um deren Effizienz.

Das zeigt sich für mich auch daran, dass relativ wenig und erst seit ein paar Tagen darüber gesprochen wird, was mit den Kita-Kindern passiert. Und klar – kleine Kinder schaffen es nicht, Masken zu tragen oder auf Abstand zu gehen und ich will auch gar nicht sagen, dass die Maßnahmen falsch sind. Ich wundere mich nur, wie wenig darüber gesprochen wird, was für eine emotionale menschliche Katastrophe das ist. Stattdessen höre ich ständig, wie viel Lernstoff nachgeholt werden muss. Und da Kita-Kinder in der Kita scheinbar nichts lernen (was ich für mehr als fragwürdig halte), sind sie kein großes Thema für die Politik. Nach Einschätzung des Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock, ist die soziale Isolation von Kindern ein schwerer Eingriff in die Grundrechte. Eine soziale Isolation in diesem jungen, für das ganze Leben prägenden Alter – das halte ich für einen schweren Grundrechtseingriff. Da erwarte ich von der Politik, dass es zwischen den derzeitigen schwarz-weiß Alternativen, also „öffnen“ oder „schließen“, noch Mittelwege gibt'“, sagte Dabrock.

Für Kinder ist das die größte menschliche Katastrophe, was da gerade passiert. Viele weinen und sind einsam, weil Kinder eben andere Kinder BRAUCHEN. So wie wir Kontakt zu anderen Erwachsenen brauchen. Kinder vereinsamen, manche Kinder leben in Elternhäusern, in denen sie Gewalt und Abhängigkeit erleben. Das potenziert sich jetzt natürlich. Ich mache mir große Sorgen um diese Kinder. Die Zahl der Hilferufe wegen Gewalt in Familien steigt an, sagte Familienministerin Franziska Giffey gestern. Weil Familien jetzt viel mehr Zeit auf engem Raum verbringen, werde das Konflikt- und Stresspotenzial erhöht. Man müsse genau abwiegen zwischen dem Gesundheitsschutz der Kinder vor dem Coronavirus und dem Kindeswohl insgesamt, sagt sie.

Es MUSS meiner Meinung nach jetzt alles daran gesetzt werden, dass es die Möglichkeit gibt für Eltern, vor allen Dingen natürlich für Alleinerziehende, zu sagen: ICH KANN NICHT MEHR! Wenn mein Kind jetzt nicht wenigstens ein paar Stunden am Tag fremdbetreut wird, dann kann ich für nichts mehr garantieren. Ich habe schon ein paar Tage nach Kita- und Schulschließung von Nachmittagseinrichtungen gehört, die sagen, verzweifelte Mütter rufen an und sagen, dass sie es nicht schaffen, dass sie Angst haben, den Kindern Gewalt anzutun. Und warum genau steht DAS nicht im Mittelpunkt des politischen Interesses? Warum ist es der Schulstoff? Was sagt das aus über unsere Politik und unsere Gesellschaft?

Meine Tochter muss zu Hause gerade lernen, was eine Ausgleichsküste an der Nordsee ist, eine Nehrung und ein Haff. Ich kann mich kaum aufrecht neben ihr am Schreibtisch halten, wenn ich ihr das erklären soll, weil sie es aus der Erklärung im Buch nicht versteht. Weil ich die riesengroße Sinnlosigkeit darüber kaum aushalte. Ich würde sagen, dass 99,99% aller Kinder das in spätestens 4 Monaten wieder vergessen haben. Zu recht! Es ist ein Auswendiglernen ohne Zusammenhang. Und in der Zwischenzeit weint mein Sohn bitterlich auf dem Küchenboden und fragt mich, ob ich nicht noch einen Bruder für ihn bekommen kann – zum Spielen. Wenn er schon nicht in die Kita darf.

Wenn nicht jetzt, wann ist dann die Zeit sich zu fragen: Was ist wirklich wichtig für unsere Kinder? Was wollen wir ihnen mitgeben, was sollen sie lernen? In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Mit was wollen wir uns beschäftigen, wofür kämpfen und uns einsetzen? Wir könnten mit den Kindern über Gerechtigkeit von Gehältern sprechen, z.B. von „systemrelevanten“ Berufen, darüber, wie gut die ganzen Einschränkungen dem Klima tun und was davon wir für die Zeit danach übernehmen wollen, davon, was der Mensch braucht, um sich glücklich und vollständig zu fühlen, so was wie Sinn und Beziehungen zu anderen Menschen und einen Glauben an die Zukunft. Und dass es uns aus diesen Gründen im Moment zum Teil sehr schlecht geht. Weil unsere Welt auf dem Kopf steht. Kinder könnten lernen, wie sie sich emotional stabilisieren können, oder wie sie sich für eine gerechtere Welt einsetzen können. Unsere Kinder sollen ja keine funktionstüchtigen Maschinen werden, sondern denkende, fühlende, verantwortliche erwachsene Menschen.

Vor allen Dingen werden sie so auch nicht funktionstüchtig. Auf diese Weise „funktionieren“ sie nämlich irgendwann gar nicht mehr. Dann bekommen sie einen „Systemfehler“! Dieser Weg ist nicht effizient! Dieser Weg ist der sicherste Weg in die Depression, wenn Kinder sich abgeschnitten fühlen von Zusammenhalt und Sinn. Ich habe gerade das phantastische Buch von Johann Hari gelesen: „Der Welt nicht mehr verbunden“, in dem er zum Thema Depression geforscht hat und darüber, was der Mensch braucht, um diese zu überwinden, bzw. dieser vorzubeugen. Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein und ein sinnerfülltes Leben zu führen? Das Buch kann ich nur jedem Menschen empfehlen, ob man selbst unter Depressionen leidet oder nicht. Es öffnet die Augen dafür, was wirklich wesentlich ist im Leben: sinnvolle Arbeit, enge Beziehungen zu anderen Menschen, mitfühlende Freude und Überwindung der Selbstsucht, Verbindung zur Natur und Werte, die an unsere intrinsische Motivation gekoppelt sind und bei denen es nicht um Anerkennung von außen, Materielles oder Belohnung geht.

Intrinsische Motivation kann im Schulsystem leider nur wenig aufkommen, weil es um das Auswendiglernen von Fakten geht, um Druck und um Belohnung (Noten). Dass immer mehr Menschen und vor allen Dingen auch immer mehr Kinder unter Depressionen leiden ist kein Wunder: Bei den Prioritäten… Depressionen sind nicht einfach ein Defekt im Gehirn, sie stehen in engem Zusammenhang mit unserer Lebensweise und damit, wie wir mit unseren Kindern leben in unserer Gesellschaft. Jetzt ist eine Zeit, in der wir die Chance haben, unsere Werte neu zu überdenken. Wollen wir darüber sprechen, wie es den ganz Kleinen geht? Wollen wir uns dafür einsetzen, dass da genauer hingeschaut wird? Dass es Mittelwege und Optionen gibt?

Wollen wir unseren Kindern Druck machen, wenn sie das mit dem zu Hause lernen nicht ganz hinbekommen, oder wollen wir mit ihnen darüber sprechen, wie es ihnen mit der Krise geht, wie schwer es ist, sich selbst zu motivieren, wie sehr sie ihre Freunde vermissen, darüber, wie man jetzt für andere da sein kann, oder für was man sich einsetzen will? Was ist MIR wirklich wichtig? Dass mein Kind jetzt nicht den Anschluss verliert? Was passiert denn Schlimmstenfalls, wenn das so ist? Und was bedeutet im Gegenzug dazu, was mit meinem Kind passiert, wenn ich es unter Druck setze, wenn es sich von mir in seiner Not, Angst und Einsamkeit nicht verstanden fühlt? Und was ist schlimmer und auf lange Sicht schädlicher für mein Kind? Ich habe noch nicht gehört, dass ein Kind traumatisiert wurde, weil es eine Klasse wiederholen musste. Aber manchmal scheint es uns, als wäre das Schlimmste, was unseren Kindern passieren kann, dass sie den Schulstoff nicht schaffen. Kinder erleiden Schaden, wenn sie in ihren Aufs und Abs im Leben nicht gut und liebevoll begleitet werden von ihren Eltern. Wenn sie nichts als Mensch gesehen werden, sondern als Maschine, die lernen, Zähne putzen und überhaupt funktionieren soll.

Ich kann nur dazu ermutigen, sich jetzt auf das Menschliche zu besinnen, dem eigenen Gefühl zu trauen, was jetzt das Richtige ist, die Zeit zu nutzen, um Strukturen zu hinterfragen und sich dafür einzusetzen, sie zu verändern, nicht gehorsam zu sein und sich anzupassen, sondern sich wirklich zu fragen: in welcher Gesellschaft möchte ich leben? Was ist für ein erfülltes und glückliches Leben wirklich wichtig? Wie möchte ich meine Werte an mein Kind weitergeben? Und wofür will ich mich in dieser Zeit einsetzen, damit ich dazu beitrage, dass sich die Welt auf lange Sicht zum Besseren verändern kann?


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